Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr – Referenzwerte für wen?

Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr sind wichtig zur Unterstützung der allgemeinen Gesundheit, für die Entwicklung von Kennzeichnungsgesetzen und zur Erkennung von Risikogruppen für Über- oder Unterversorgung. Der Entwicklungsprozess ist allerdings komplex, und die Referenzwerte sollten nicht als Empfehlungen oder Ziele für Einzelpersonen angesehen werden. Vielmehr ist die Interpretation durch Fachleute erforderlich, und sie können die Grundlage für Ernährungsempfehlungen sein.

Herleitung der Referenzwerte

Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr (Dietary Reference Values (DRVs)) sind quantitative Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr, abgeleitet für verschiedene Bevölkerungsgruppen auf der Basis von Gesundheitskriterien. Sie geben Fachleuten Anleitung hinsichtlich der geschätzten Menge an Energie und Nährstoffen, die zur Unterstützung eines angemessenen Wachstums, der Entwicklung und der Gesundheit erforderlich sind. Gleichzeitig reduzieren sie das Risiko von Mangelerscheinungen und nicht ansteckenden Krankheiten wie Herzkrankheit oder Krebs. (1)

Zur Bestimmung einer angemessenen Nährstoffzufuhr wird eine Reihe von Kriterien angewendet. Für die meisten Nährstoffe kann eine Hierarchie aufgestellt werden – von der Vorbeugung gegen klinische Mangelerscheinungen bis zur Optimierung von Körperspeichern oder Versorgungsstatus. Je nach Kriteriensatz können unterschiedliche Informationsquellen verwendet werden: In-vitro-Untersuchungen, Tierversuche, Humanstudien und epidemiologische Erhebungen. Dabei werden verschiedene Faktoren berücksichtigt, z. B. Alter, Geschlecht, besondere Anforderungen während Schwangerschaft oder Stillen, der Einfluss von Stress durch Umweltfaktoren wie Infektion, oder Bioverfügbarkeit (Nährstoffanteil, der aus der Nahrung aufgenommen und vom Körper verwendet wird). Deshalb werden DRVs für unterschiedliche Lebenslagen entwickelt, abhängig von den verfügbaren Daten. Innerhalb jeder Bevölkerungsgruppe sind die Anforderungen an die Nährstoffzufuhr von Person zu Person unterschiedlich. (1)

Europäische DRVs

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) hat aktualisierte DRVs für Fette, Kohlenhydrate (darunter Zucker und Ballaststoffe) und Wasser im Jahr 2010, für Protein im Jahr 2012, und für Energie im Jahr 2013 veröffentlicht; die Veröffentlichung der Referenzwerte für Mikronährstoffe ist noch in Arbeit. (1-3)

Die EFSA hat auch Richtlinien für die Herleitung und Anwendung von DRVs erarbeitet, darunter: geeignete Studien, Methoden für die Bestimmung des Nährstoffbedarfs (inkl. Einflussfaktoren), und wie die Ernährung das Risiko chronischer Erkrankungen beeinflusst. (1) Das EU-Projekt EURRECA (EURopean micronutrient RECommendations Aligned) hat ein Rahmenwerk für die Herleitung und Anwendung von Referenzwerten für die Nährstoffzufuhr entwickelt. (4)

Welche Art von DRV für die Nährstoffzufuhr festgelegt und welche Kriterien verwendet werden, wird für jeden Nährstoff von Fall zu Fall entschieden. Innerhalb einer Bevölkerungsgruppe, für die DRVs erarbeitet werden, variiert der Bedarf zwischen Einzelpersonen (siehe Abb. 1). Von den verschiedenen nationalen Behörden wird eine große Bandbreite von Begriffen verwendet. In Europa sind die Begriffe harmonisiert worden, und die EFSA verwendet folgende Definitionen für DRVs:

1. Bevölkerungsreferenzwert für die Nährstoffzufuhr: Wert für die Nährstoffzufuhr, der für praktisch alle Menschen als angemessen angesehen wird, d. h. ein optimaler Zufuhrwert für die Bevölkerung als Ganzes.

2. Durchschnittlicher Bedarf: Niveau der Nährstoffzufuhr, das für die Hälfte der Bevölkerung angemessen ist, auf Basis der Annahme, dass die Anforderungen normalverteilt sind (siehe Abb. 1).

3. Unterer Schwellenwert für die Nährstoffzufuhr: das Niveau der Nährstoffzufuhr, unterhalb dessen fast alle Einzelpersonen eine zu niedrige Zufuhr haben.

4. Adäquate Aufnahme (wenn die Daten unzureichend sind für die Festlegung eines Bevölkerungsreferenzwerts): das durchschnittliche Niveau der Nährstoffzufuhr einer gesunden Bevölkerung (darum vermutlich ausreichend).

FT86_fig1_DE

Abb. 1. Verteilung des Bedarfs einer Bevölkerungsgruppe unter der Annahme, dass der Bedarf normalverteilt ist und die Unterschiede zwischen dem Bedarf verschiedener Einzelpersonen bekannt sind. Der Bevölkerungsreferenzwert liegt zwei Standardabweichungen (SD) über, der untere Schwellenwert zwei SD unter dem Durchschnittsbedarf. (1)

Da DRVs nicht nur helfen sollen, eine ausreichende Nährstoffzufuhr sicherzustellen, sondern auch vor einer zu hohen Aufnahme zu schützen, gibt es zudem folgende Referenzwerte:

1. Referenzwertbereiche für die Zufuhr von Hauptnährstoffen: ausgedrückt als Anteil an der täglichen Energiezufuhr; spiegelt ein für die Erhaltung der Gesundheit angemessenes Niveau der Nährstoffzufuhr wider und ist mit einem niedrigen Risiko chronischer Erkrankungen verbunden. Beispielsweise liegt der Referenzwertbereich für Nahrungsfett bei 20-35% der täglichen Energiezufuhr. (1)

2. Obergrenze für die tägliche Gesamtzufuhr: der Höchstwert für die tägliche Zufuhr von Nährstoffen, bei dem es unwahrscheinlich ist, dass mit chronischer Aufnahme nachteilige Auswirkungen auf die Gesundheit verbunden sind (siehe Abb. 2).

FT86_Fig2_DE

Abb. 2. Zusammenhang zwischen der Nährstoffzufuhr einer Person und dem Risiko nachteiliger Auswirkungen aufgrund unzureichender oder übermäßiger Aufnahme. (1)

Anwendung von DRVs

DRVs werden für gesundheitspolitische Entscheidungen, in der Nahrungsmittelindustrie und in der wissenschaftlichen Forschung verwendet. Sie sind nützlich für Ernährungsanalysen, die Erstellung von Speiseplänen, Ernährungsempfehlungen für Einzelpersonen oder Gruppen sowie für die Kennzeichnung von Nahrungsmitteln.

Ernährungsanalysen und -planung

Nährstoffaufnahmen können geschätzt und anhand der DRVs das Risiko unzureichender oder übermäßiger Zufuhr beurteilt werden. Um Nährstoffzufuhrgewohnheiten korrekt widerzuspiegeln, sollten bei Ernährungsanalysen Unterschiede in der täglichen Nährstoffzufuhr berücksichtigt werden. Verbraucher neigen dazu, eine geringere als die tatsächliche Nahrungsaufnahme anzugeben (Under-reporting). Die Ernährungsplanung strebt Ernährungsweisen mit geringer Wahrscheinlichkeit für unzureichende oder übermäßige Nährstoffzufuhr an. (1)

Bei Personen, deren Nährstoffzufuhr allgemein niedriger ist als der Durchschnittsbedarf, ist die Ernährung wahrscheinlich unzureichend. Bei einer Nährstoffzufuhr unterhalb des unteren Schwellenwerts, ist die Ernährung sehr wahrscheinlich unzureichend. Umgekehrt kann mit einer gewohnheitsmäßigen Nährstoffzufuhr über der Obergrenze für die tägliche Gesamtzufuhr ein erhöhtes Gesundheitsrisiko verbunden sein. Die Beurteilung der Ernährungsgewohnheiten von Einzelpersonen ist allerdings mit Problemen behaftet, die in erster Linie in den Grenzen von Methoden wie Ernährungstagebüchern oder Fragebögen liegen. Für eine gültige Beurteilung der Ernährungsweise einer Person sollten individuelle Unterschiede im Nährstoffbedarf berücksichtigt werden, unter Verwendung anthropometrischer, biochemischer und klinischer Daten sowie der Erfassung des körperlichen Aktivitätsniveaus. (1)

Bei Gruppen von Menschen ist die Verteilung der Nährstoffzufuhr innerhalb der Gruppe wichtiger als eine bestimmte empfohlene Zufuhrmenge. Informationen über die Nahrungsaufnahme von Gruppen erhält man aus Studien zum Nahrungsverzehr. Der Prozentsatz der Menschen mit einer Nährstoffzufuhr unterhalb des Durchschnittsbedarfs (Grenzwert-Methode) ist der geschätzte Anteil an der Gruppe mit wahrscheinlich unzureichender Aufnahme. Diese Methode ist adäquat, wenn die Nährstoffzufuhr normalverteilt ist (siehe Glockenkurve in Abb. 1). Eisen ist ein Beispiel für einen Nährstoff mit ungleichmässiger Verteilung des individuellen Bedarfs innerhalb einer Bevölkerungsgruppe; die Grenzwert-Methode würde die Verbreitung unzureichender Eisenzufuhr bei menstruierenden Frauen unterschätzen. (1)

Umgekehrt gibt es statistische Methoden (z. B. Wahrscheinlichkeitsansatz oder Monte-Carlo-Simulation), bei denen die Variabilität der Nährstoffzufuhr und des Nährstoffbedarfs berücksichtigt werden. Der Bevölkerungsreferenzwert sollte nicht als Grenzwert verwendet werden, weil damit der Anteil der Personen, bei denen das Risiko unzureichender Nährstoffzufuhr besteht, überschätzt würde. Eine durchschnittliche Nährstoffzufuhr in Höhe der Adäquaten Aufnahme oder darüber bedeutet eine niedrige Verbreitung von unzureichender Nährstoffzufuhr. Liegt die Nährstoffzufuhr einer Einzelperson jedoch unter der Adäquaten Aufnahme, lässt sich die Wahrscheinlichkeit unzureichender Nährstoffversorgung nicht schätzen. (1)

Bei der Ernährungsplanung für Einzelpersonen oder Gruppen kann der Bevölkerungsreferenzwert (oder die Adäquate Aufnahme) als Zielwert für angemessene Zufuhr von Vitaminen, Mineralien oder Protein verwendet werden. Der Medianwert der Nährstoffzufuhr einer Gruppe kann über dem Bevölkerungsreferenzwert liegen (besonders bei einer schiefen Verteilung). (1)

Die DRVs für Energie werden als Durchschnittsbedarf einer bestimmten Alters- oder Geschlechtsgruppe angegeben. Da der Energiebedarf stark streut, sind DRVs von begrenztem Nutzen in Bezug auf Einzelpersonen. Der angemessene Durchschnittsbedarf an Energie (auf Basis von Geschlecht, Alter, Größe, Gewicht und körperlicher Aktivität) kann als Zielwert verwendet werden, übersteigt den Bedarf aber bei der Hälfte einer definierten Personengruppe. Das kann zu einer positiven Energiebilanz dieser Personen und damit langfristig zu einer Gewichtszunahme führen. Der Körpergewichtsverlauf ist ein nützlicher Indikator dafür, ob die übliche Energiezufuhr dem Bedarf entspricht. Deshalb sollte das Körpergewicht überwacht und die Nährstoffzufuhr entsprechend angepasst werden.1

Ernährungsziele und -empfehlungen

Ernährungsziele und – empfehlungen berücksichtigen Gesundheitsbedürfnisse, den Ernährungszustand und Verbrauchsmuster, sowie die Zusammensetzung verfügbarer Nahrungsmittel. Zielwerte für die Nährstoffzufuhr einer Bevölkerungsgruppe können für die Erstellung von Plänen und Beurteilungen im Gesundheitswesen verwendet werden. Ein Beispiel für ein Nährstoffziel könnte ein Bevölkerungsdurchschnitt für die Fettzufuhr von 30% der Energie sein, d. h. dass 30% der durchschnittlichen täglichen Energiezufuhr aus Fett stammt.

Nährstoffempfehlungen sind typischerweise Ziele für die Aufnahme von Einzelpersonen, beispielsweise ≤ 10% Energie für gesättigte Fettsäuren. Diese werden nicht immer direkt an den Verbraucher kommuniziert, sondern dienen eher der Verwendung durch Gesundheitsfachleute und politische Entscheidungsträger. Die EFSA hat Richtlinien dazu veröffentlicht, wie DRVs zur Erarbeitung lebensmittelbasierter Ernährungsleitlinien (Food-Based Dietary Guidelines (FBDGs)) verwendet werden können, die von den Verbrauchern leichter verstanden werden als numerische Zielwerte. (5) Auf einzelstaatlicher Ebene berücksichtigen Empfehlungen die Ernährungsgewohnheiten und den Bedarf verschiedener Gruppen. In der Europäischen Union verwenden bereits 25 Mitgliedsstaaten FBDGs; Teller, Pyramiden oder Kreise sind die am häufigsten verwendeten Modelle. (6)

Lebensmittelkennzeichnung

DRVs bilden auch die Grundlage für die Kennzeichnung von Nährstoffen auf Lebensmitteln, Getränken und Nahrungsergänzungsmitteln. Die neue Verordnung über Lebensmittelinformationen für Verbraucher macht es zur Pflicht, Nahrungsmittel mit Informationen zu Energie, Gesamtfett, gesättigten Fetten, Kohlenhydraten, Zucker, Protein und Salz pro 100g (pro 100 ml bei Flüssigkeiten) zu kennzeichnen. Angaben pro Portion können auch gegeben werden.

Zusätzlich zu den absoluten Werten kann der Nährstoffgehalt in Prozent der Referenzmenge eines durchschnittlichen Erwachsenen ausgedrückt werden (allgemein bekannt als „Richtwerte für die Tageszufuhr“ (Guideline Daily Amounts (GDA)), je 100g/ml oder pro typische Portionsgröße. Die Werte für die Referenzmengen entsprechen den Ernährungsempfehlungen für die Allgemeinbevölkerung und wurden für Kennzeichnungszwecke aufgestellt, und zwar auf der Grundlage einer Ernährung mit 2000 kcal (8400 kJ): 70 g Fett (31,5% Energie), 20 g gesättigte Fettsäuren (9% Energie), 260 g Kohlenhydrate (52% Energie), 90 g Zucker (18% Energie), 50 g Protein und 6 g Salz. (7,8) Beispielsweise kann die Kennzeichnung auf einem Joghurtbecher lauten: 2,8 g Fett pro 100g, 4% der Referenzmenge. Bei der Kennzeichnung von Nahrungsmitteln kann diese Information begleitet werden von der Angabe: “Referenzmenge eines durchschnittlichen Erwachsenen (8400 kJ/2000 kcal)”. (8)

Zusätzlich darf der Gehalt an Vitaminen und Mineralien angegeben werden, wenn signifikante Mengen davon enthalten sind; in diesen Fällen ist der Inhalt ebenfalls als Prozentsatz der Referenzmenge anzugeben. (8) Die EFSA hat noch keine aktualisierten DRVs für Mikronährstoffe veröffentlicht, diese wurden aber für Kennzeichnungszwecke aufgestellt.

Falsche Anwendung von DRVs

DRVs können falsch angewendet werden. Beispielsweise ergibt es keinen Sinn, einzelne Nahrungsmittel oder Getränke zu kritisieren, weil sie die DRVs für Fett, Salz oder Zucker nicht erfüllen. Die DRVs gelten nämlich pro Tag und für die gesamte Ernährung über einen längeren Zeitraum hinweg.

Darüber hinaus sollten DRVs nicht als Ernährungsempfehlungen für Einzelpersonen missverstanden werden. Sie dienen als Orientierungshilfe für Fachleute für die Ausarbeitung von Richtlinien und für Empfehlungen an die Verbraucher. Es handelt sich um Schätzungen (nicht um exakte Werte), und sie gelten für gesunde Personen; auf Patienten können sie nicht ohne Vorsicht angewendet werden. (1) Gesundheitsfachleute, insbesondere Ernährungsberater, haben eine wichtige Funktion bei der Übersetzung der DRVs in individuellen Bedarf.

Verbraucher sollten auf lange Sicht den FBDG folgen, und zwar durch eine ausgewogene und vielseitige Ernährung. Referenzmengen auf Nahrungsmitteletiketten sind keine Zielwerte. Prozentangaben von Referenzmengen sollen den Verbrauchern helfen, den relativen Beitrag einzelner Produkte zur täglichen Nahrungsaufnahme abzuschätzen, und sie bieten eine Möglichkeit, die Nährwerte verschiedener Produkte zu vergleichen.

Weitere informationen: www.eurreca.org

Literatur

1) EFSA (2010). Scientific Opinion on principles for deriving and applying Dietary Reference Values. EFSA Journal 8(3):1458. http://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/doc/1458.pdf
2) Food Today 5/2011. Ernährungsempfehlungen für Europa in Überarbeitung: www.eufic.org/article/de/ernahrung/lebensmittelverstandnis/artid/ernaehrungsempfehlungen-europa-ueberarbeitung/
3) EFSA (2013). Scientific Opinion on Dietary Reference Values for energy. EFSA Journal 11(1):3005.
4) EU-Projekt EURRECA, http://www.eurreca.org
5) EFSA (2010). Scientific Opinion on establishing Food-Based Dietary Guidelines. EFSA Journal 8(3):1460. http://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/doc/1460.pdf
6) EUFIC Review (2009). Lebensmittelorientierte Ernährungsleitlinien in Europa: www.eufic.org/article/de/expid/lebensmittelorientierte-ernahrungsleitlinien-europa/
7) EFSA (2009). Scientific Opinion of the Panel on Dietetic Products, Nutrition and Allergies on a request from the Commission related to the review of labelling reference intake values for selected nutritional elements. EFSA Journal 1008:1-14. http://www.efsa.europa.eu/en/efsajournal/doc/1008.pdf
8) Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:304:0018:0063:DE:PDF

Quelle: FOOD TODAY 02/2013