Absage an Sondersteuern und neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Gewichtsentwicklung

Nutrigenomik, Epigenetik und der Einfluss der Darmflora – was hat welche Auswirkungen auf die Gewichtsentwicklung, wo gibt es Ansätze für die Adipositasprävention und wie geht die Politik mit solchen Erkenntnissen mit Blick auf Ihre Maßnahmenpakete um? Diesen Fragen ist der Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL) im Rahmen seiner zweiten Ernährungstagung nachgegangen. Die Erkenntnisse des Tages: Die Forschung ist vielversprechend, steckt aber noch in den Kinderschuhen und die politischen Vertreter von CDU, SPD, FDP und den Grünen lehnen eine Sonderabgabe auf Zucker oder andere Nährstoffe ab.

BLL-Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff konstatierte in seiner Begrüßungsrede, dass Essen mittlerweile ein Politikum sei und allzu häufig gefühlte Wahrnehmungen statt Fakten die Debatte bestimmen würden. So würde zwar stets von der immer größer werdenden Zahl adipöser Kinder die Rede sein, doch die letzten repräsentativen Daten zeigen zum einen, dass es bei den Schulanfängern eine Stagnation bei den Adipositaszahlen gibt und zum anderen, dass 94 Prozent der Kinder gar nicht adipös seien.

Statt gefühlter globaler Lösungen wie Werbebeschränkungen oder Sondersteuern müssen deshalb wirkungsvolle Ansätze für diejenigen her, die tatsächlich betroffen sind: „Das komplexe Geflecht der Gewichtsentwicklung und der starke Einfluss der gesamten Lebensweise des Einzelnen muss thematisiert werden, d. h. auch ausreichend Bewegung, ein gesunder Schlaf, Stressbewältigung und vor allem die Achtsamkeit für den eigenen Körper.“

Weiterhin stellte Minhoff vor allem die Leistungen der Lebensmittelbranche heraus, die ein vielfältiges und buntes Angebot für individuelle Bedürfnisse liefert: „Fleischersatzprodukte, Fertiggerichte ohne Zusatzstoffe und Produkte, die weniger Salz, Zucker oder Fett enthalten – solche Innovationen sind große Herausforderungen für die Wirtschaft, denn sie bedeuten einen intensiven Forschungs- und Entwicklungsprozess. Diese Leistung gilt es anzuerkennen, denn sie wird mit Leidenschaft für den König Kunde betrieben. Schließlich ist der Konsument der Entscheider über den Markt. Dadurch reguliert sich die Branche selbst und so sollte es auch bleiben.“

Wie komplex eine Rezepturänderung sein kann, wusste auch Prof. Dr. Gerhard Rechkemmer zu berichten. Das Max Rubner-Institut erforscht im Auftrag der Bundesregierung diverse Projekte zur Reformulierung, d. h. Möglichkeiten, Lebensmittel mit weniger Salz, Zucker und Fett herzustellen. Dabei geht es konkret um Strategien zur Salzreduktion in Fleischwaren, bei Schnittkäse und Fischprodukten, zur Fettreduktion bei Backwaren und Rohwürsten und zur Zuckerreduktion, in dem die Süßkraft von Laktose gesteigert werden soll und ballaststoff- und polyphenolreiche Frühstückscerealien mit reduzierter Energiedichte hergestellt werden sollen.

Die größte Herausforderung, so Rechkemmer, liege darin, dass man Salz, Zucker und Fett nicht einfach weglassen könne: „Jeder Nährstoff hat fast immer mehr als eine Funktion im Lebensmittel, z. B. die Verbesserung der Haltbarkeit oder die Stabilisierung der Konsistenz“. Eine Herausforderung ist zugleich auch die Nationale Verzehrsstudie III, die aktuelle Daten zum Gesundheits- und Gewichtsstatus der deutschen Bevölkerung verfügbar machen soll. Die Vorbereitungen dieses Großprojekts haben jetzt begonnen, publiziert werden die Ergebnisse wohl aber erst 2023.

Prof. Dr. Hannelore Daniel von der Technischen Universität München konnte bereits Forschungsergebnisse zum Thema Nutrigenomik vorweisen. Das Projekt „Food4me“, beschäftigt sich mit personalisierter Ernährung und deren Effekten. Die Ergebnisse zeigen, dass zwar die personalisierten Ernährungsempfehlungen von den Probanden eher umgesetzt wurden als generische Empfehlungen, aber auffällig wurde der Unterschied erst bei denjenigen, die ihre Empfehlungen auch in Form eines kompletten Menüplans erhielten: „Die Konsumenten sind verwirrt von der umfangreichen Berichterstattung über Ernährung. Sie wissen nicht mehr, was richtig und was falsch ist. Deshalb suchen sie so konkrete Empfehlungen für sich selbst wie möglich“, erklärte Prof. Daniel. „Personalisierte Ernährung heißt für den Einzelnen, viel mehr Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Aber ist diese Gesellschaft jetzt bereit dafür? Sie sollte es in Zukunft sein, denn die personalisierte Ernährung wird ein Zukunftsmodell werden.“

Zukunftsgerichtet sind, so die Meinung der Wissenschaftler Prof. Dr. Axel Imhof, Ludwig- Maximilians-Universität München und Dr. Siegfried Ussar, Helmholtz-Diabetes Center München, auch die Forschungsrichtungen der Epigenetik und des Mikrobioms. So resümierte Prof. Imhof zwar, dass wir vom Verstehen der Epigenetik „noch weit entfernt“ seien, aber es sei definitiv, dass die Ernährung einen modellierenden Effekt auf die Genexpression habe. Das bedeutet, dass bereits im Mutterleib bestimmte Parameter wie eine Neigung zu Übergewicht entstehen können. Dr. Ussar erklärte in seinem Vortrag plakativ: „Eine Kalorie ist nicht eine Kalorie. Jeder verstoffwechselt sie anders“. Darm und Mikrobiom spielen demnach eine wichtige Rolle in der Entstehung von Adipositas und Insulinresistenz, wobei auch hier wie bei der Epigenetik genaue Zusammenhänge noch unklar seien.

Die hochkarätig besetzte politische Podiumsdiskussion mit Gitta Connemann, stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende, Elvira Drobinski-Weiß, verbraucherpolitische Sprecherin SPD, Prof. Dr. Hauke Hilz, verbraucherpolitischer Sprecher FDP, Nicole Maisch, verbraucherpolitische Sprecherin Bündnis 90/Die Grünen und BLL-Präsident Stephan Nießner begann mit der überraschenden einstimmigen Ablehnung einer Zuckersteuer: „Das ist eine Phantomdiskussion, niemand fordert eine solche Abgabe“, erklärte Maisch. Stattdessen befürwortete sie, ebenso wie Drobinski-Weiß, eine Reformulierungsstrategie, um gezielt Fett, Salz und Zucker in verarbeiteten Lebensmitteln zu reduzieren, um so Übergewicht vorzubeugen.

Connemann wandte ein, dass Politik keine Rezepte vorgeben sollte. Sie warnte: „Reformulierung ist auch eine Möglichkeit, kleine Unternehmen aus dem Markt zu kicken“. Prof. Hilz hält von dererlei staatlichen Eingriffen wenig, sondern setzt klar auf mehr Bildung und Aufklärung. Hier seien alle Akteure gleichermaßen gefragt ihren Beitrag zu leisten. Die Lebensmittelwirtschaft, so Nießner, kommt diesem Auftrag durch Transparenz auf der Verpackung und Informationen zu Produkten über Broschüren, Verbraucherhotlines und digitale Kommunikation nach.

Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde e. V. (BLL)

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Quelle: BLL