Genussfähigkeit: Die „Kleine Schule des Genießens“

Eine euthyme Intervention. Lehrt uns Selbstfürsorge.

Dr. rer. nat. Rainer Lutz, klinischer Psychologe, Marburg/Dreihausen

Momente des Genießens helfen, uns gegen den alltäglichen Stress zu schützen und stellen den negativen Gefühlen positive entgegen. Der vorliegende Beitrag plädiert für das bewusste Erlernen von Genuss und die Schulung der eigenen Genussfähigkeit als Bestandteil von Selbstfürsorge und einem guten Leben. Er erläutert die Funktionsweise und allgemeinpsychologischen Voraussetzungen für das Empfinden von Genuss und stellt das Konzept der „Kleinen Schule des Genießens“ (KSdG) mit ihren sieben Genussregeln vor, mit denen das Genießen neu erlernt werden kann.

Die Euthyme Orientierungsreaktion

In der Psychologie werden Genuss und Genießen dem Bereich des euthymen Erlebens und Verhaltens zugeordnet. Euthym bedeutet: „was der Seele gut tut“. Beim Genießen wird die Aufmerksamkeit auf die sinnliche Wahrnehmung eines schönen Objekts oder eines angenehmen Vorgangs gerichtet. Wendet sich eine Person einem Objekt oder Vorgang zu, tritt eine euthyme Orientierungsreaktion (EOR) auf, die den Genuss einleitet. Diese kann selbst gesteuert werden, indem die Person prüft, welche euthymen Potenziale eine aktuelle Situation anbietet und ihren eigenen aktuellen Bedürfnissen entspricht, um anschließend ein Objekt oder einen Vorgang auszuwählen.

Der Prozess des Genießens kommt in Gang: Die Konzentration und sinnliche Wahrnehmung wird auf das Genussobjekt gerichtet, sodass eine „euthyme Versenkung“ eintritt. In diesem Moment scheint die Zeit still zu stehen, positive Bilder oder Erinnerungen tauchen auf; es tritt Entspannung ein.

Kleine Schule des Genießens

Wer verlernt hat zu genießen, kann sich „Nachhilfe“ in der “Kleinen Schule des Genießens” (KSdG) geben lassen. Ein Therapeut/Trainer unterweist die Teilnehmer auf den Interventionsebenen Kognitionen, Sinne und Emotionen sowie auf der Handlungsebene in der Genusswahrnehmung. Die KSdG folgt dabei sieben goldenen Genussregeln, die besagen, dass Genuss Zeit braucht, erlaubt sein muss, nicht nebenbei geht, dabei Weniger mehr ist, man aussuchen soll, was einem gut tut, es ohne Erfahrung keinen Genuss gibt und dieser alltäglich ist. Teilnehmer werden in verschiedenen Übungen darin geschult, sich auf nur einen Sinn zu fokussieren und diesen anhand von z. B. Geruchs- oder Tastmaterial genau zu erforschen und bewusst wahrzunehmen.

Ein Besuch der KSdG wird Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen (z. B. Depressionen, Schmerz-Patienten) empfohlen, ist aber auch gerade für Nicht-Patienten sinnvoll. Eine Gruppe aus Kranken und Gesunden bietet einen hilfreichen Rahmen, um Genuss wieder neu zu erlernen und Gelegenheiten zu schaffen, in der eine EOR möglich ist. Eine Anleitung zum Genießen lernen bietet das kostenfreie Informationsportal www.genuss-tut-gut.de, das vom Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie e.V. (BDSI) ermöglicht wurde. Die Webseite wurde vom Autor mit entwickelt und verknüpft erstmals fachlich angeleitete Genusstrainings mit einem Informations- und Lernangebot für jedermann.

Genuss als Selbstfürsorge

Wer genießen will, muss Zeit aufbringen, denn jede EOR fordert sie, schafft aber gleichzeitig eine Unterbrechung und vermittelt das Gefühl, über die eigene Zeit selbst zu verfügen. Die EOR schafft daher auch Zeit, weshalb sie als kluger Mechanismus der Selbstregulation zur Genussoptimierung verstanden werden kann und ein idealer Weg zur Selbstfürsorge ist. Wer euthymes Verhalten erlernt hat, besitzt die Fähigkeit, positive Emotionen hervorzurufen und Genuss zu erleben.

Fazit

Für ein gutes Leben muss Genuss gewollt und akzeptiert sein, denn durch Genuss entstehen positive Gefühle, die selbst herbeigeführt und damit auch kontrolliert werden können. Ziel der KSdG ist letztendlich Selbstfürsorge: Eine Person sieht sich selbst in der Verantwortung für sich und ihr Wohlergehen. Die KSdG ist daher nicht nur für Patienten, sondern auch für Gesunde sinnvoll, um das Genießen wieder neu zu erlernen.

Langfassung

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Moderne Ernährung heute
Herausgeber: Prof. Dr. R. Matissek
Lebensmittelchemisches Institut (LCI) des Bundesverbandes der deutschen Süßwarenindustrie e. V., Köln

Quelle: Wissenschaftlicher Pressedienst „Moderne Ernährung heute“ (WPD 1/2017)