Kommentar von Detlef Brendel
Das detailliert beschriebene Treffen von Rübenbauern auf einem Acker im niedersächsischen Holtensen macht nach Lektüre der Titelgeschichte „Süße Sucht“ im Spiegel (15/7.4.2018) den Eindruck eines konspirativen Treffens boshafter Menschen, die das Ende ihrer Mitbürger beschlossen haben. Der aus ihren geernteten Rüben gewonnene Zucker ist für alle erdenklichen Leiden verantwortlich. Autor Jörg Blech entwickelt eine Vernichtungs-Theorie, die Zwänge des seriösen Journalismus aufgibt, um fantasievoll angebliche Kausalbeziehungen zu gestalten. Alles macht der Zucker: Adipositas und Diabetes, er verlängert die Wartelisten für Spendernieren, macht blind und ist verantwortlich für rund 40.000 Amputationen im Jahr. Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie Fettstoffwechselstörungen sollen durch Zucker entstehen und man sieht nach regelmäßigem Genuss auch frühzeitig alt aus.
Die Aneinanderreihung von Behauptungen, Vorurteilen und Meinungen ist rekordverdächtig. Die angeblich große Zucker-Verschwörung der Industrie aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts wird wieder einmal bemüht. Die renommierte Zeitschrift „Science“ hat im Februar dieses Jahres eine gemeinsame Studie von zwei amerikanischen Universitäten publiziert, die sehr detailliert belegt, dass es die Zucker-Konspiration nie gegeben hat. Recherche wäre einem Magazin wie dem Spiegel angemessen gewesen.
Recherche hätte auch bei der zitierten WHO und ihren Empfehlungen zum Zuckerverzehr erhellend gewirkt. Die aktuellen Empfehlungen basieren auf rund 70 Jahre alten Zahnstudien aus Japan. In der WHO wurde heftig gestritten, ob man sich mit der Empfehlung nicht als wissenschaftlich unseriös blamiert. Ein Verdacht, den eindrucksvolle Studien zur Kompetenz der WHO deutlich unterstreichen.
Und es gibt neue Schreckensmeldungen. Klebriger Zucker wie bei einer verschütteten Limonade verklebt die Blutgefäße. Man möchte ergänzen, dass deshalb Würfelzucker besonders gefährlich sei, weil er scharfkantig ist und die Gefäße verletzen könnte. Einem ernsthaften Wissenschaftler wie Dr. Stephan Martin, dem diese klebende Limonaden-Parallele angehängt wird, kann es kaum gefallen, damit in die Annalen der Medizin einzugehen. Das versteht er nicht unter Wissenschaft.
Beweisfähig sind für Blechs Agitation Versuche, die unter dem Aspekt Ethik zweifelhaft und dem der Ergebnisorientierung selbstverständlicher Nonsens sind. Sechs gesunden Männern wird eine Woche Bettruhe mit täglich 6.000 Kilokalorien verordnet. Dass ein solcher Lebensstil zu Gewichtszunahme führt, hätten auch Grundschüler bei Jugend forscht vermutet.
Spätestens in diesem Zusammenhang fällt eine Besonderheit der Blech-Story auf. Der Begriff Bewegung kommt in dem Beitrag nicht vor. Trotz einer Fülle von Studien zur Relevanz der mangelnden Bewegung für Übergewicht und Krankheiten wie beispielsweise Diabetes und Herz-Kreislauf in der sitzenden Gesellschaft fehlt dieses Thema. Die Forderung der aktuellen KiGGS-Studie, dem dramatischen Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen durch geeignete Initiativen zu begegnen, wird unterschlagen. Journalistische Nachlässigkeit oder politische Absicht?
Autor Jörg Blech müsste es eigentlich wissen. Er hat ein Buch geschrieben, in dem er fordert, die Menschen sollten sich nicht für krank verkaufen lassen, weil sie eigentlich gesünder wären, als man ihnen weismachen will. Und er hat ein weiteres Buch geschrieben, das die Heilkraft der Bewegung thematisiert. Klinische Studien, so Blech, beweisen, dass körperliche Bewegung hilft, Krankheiten wie Diabetes oder Herzinfarkt zu besiegen. In seiner aktuellen Kampfschrift kein Wort darüber. Es passt nicht zur Anti-Zucker-Strategie. Damit degeneriert er den Spiegel zum „Wachtturm“ einer Organisation wie Foodwatch. Auch die leugnet wider besseres Wissen das Problem Bewegungsmangel, weil sich damit schlecht Spendengelder einsammeln lassen.
Detlef Brendel ist Autor des Buches „Schluss mit Essverboten“, in dem er sich u.a. kritisch mit den Irrungen der so genannten Ernährungsaufklärung und der Bevormundung der Verbraucher beschäftigt (Plassen Verlag, ISBN: 9783864705441).