Internationaler Anti-Diät-Tag: „Eigentlich müssten wir fast alle übergewichtig sein“

In Deutschland sind etwa 64 Prozent der Männer und 49 Prozent der Frauen übergewichtig, Tendenz steigend. Viele versuchen, dem mit verschiedensten Diäten zu begegnen. Doch Fachleute stellen diese angesichts ihrer geringen Erfolgsquoten zunehmend infrage. Darunter auch Anja Hilbert, Professorin für Verhaltensmedizin im Integrierten Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen der Universität Leipzig und des Universitätsklinikums.

Anlässlich des Internationalen Anti-Diät-Tages am 6. Mai sprachen wir mit ihr über die Frage, ob Übergewicht eine Essstörung ist, über die Gefahr von Diäten und darüber, was wirklich gegen Adipositas helfen kann.

Frau Prof. Hilbert, ist Übergewicht eine Essstörung?

Nein, es ist eindeutig keine psychische Störung und damit auch keine Essstörung. Für eine psychische Störung muss ein psychisches Leid vorhanden sein. Das ist bei Übergewicht aber nicht immer der Fall. Häufig nehmen übergewichtige Menschen lediglich schleichend immer mehr Energie zu sich, als sie verbrauchen, sodass sie die überschüssige Energie in Fettzellen einlagern.

Häufig ist Übergewicht aber auch eine Folge von zugrundeliegenden Essstörungen. Dazu zählt insbesondere die Binge-Eating-Störung, bei der es zu wiederkehrenden Essanfällen kommt, die aber im Gegensatz zur Bulimie nicht „ungeschehen“ gemacht werden sollen, indem sich die Betroffenen beispielsweise erbrechen.

Wenn starkes Übergewicht eine Folgeerscheinung ist, wie kommt es zu den oft zugrundeliegenden Essstörungen?

Das ist die entscheidende Frage. Man weiß bisher, dass die dahinterliegenden Essstörungen häufig mit einem hohen emotionalen Essen verknüpft sind. Das heißt, hier werden häufig Gefühle über das Essen reguliert. Schlechte Stimmungen werden durch Essen kompensiert, bei positiven Empfindungen dient das Essen zur Beruhigung.

Häufig spielt aber auch eine generell höhere Impulsivität der Menschen eine große Rolle, die zu enthemmtem Essen führt. Das Thema Impulsivität ist auch bei uns im IFB AdipositasErkrankungen ein zentrales Forschungsthema.

Was sind also die häufigsten Risikofaktoren für Adipositas?

Neben dem genannten emotionalen Essen und der erhöhten Impulsivität ist das beispielsweise Stress, mit dem die Personen schlecht umgehen können. Aber auch der schleichende Prozess aus zu wenig Bewegung in Kombination mit längerfristig zu viel zugeführter Energie. Jeder Deutsche nimmt jeden Tag durchschnittlich 120 Kilokalorien zu viel zu sich.

Nicht zu unterschätzen ist aber auch die biogenetische Komponente. Man schätzt, dass 30 bis 70 Prozent des Körpergewichts genetisch bedingt sind. Die treibende Kraft hinter den steigenden Adipositas-Zahlen ist unsere Umwelt mit ständig verfügbarem fett- und zuckerreichen Essen, zunehmendem Konsum an Unterhaltungsmedien und immer weniger Bewegung. Eigentlich müssten wir in diesem Umfeld fast alle übergewichtig sein.

Warum sind wir es dann nicht?

Weil sich viele Menschen bewusst dagegen entscheiden. Das fällt den Menschen umso schwerer, die biogenetisch anfällig für Übergewicht sind. Dafür ist auch der sozioökonomische Status entscheidend. Menschen mit niedrigem Status können beispielsweise Belohnungen oft schlechter aufschieben.

Warum können adipöse Menschen nicht einfach weniger essen? Oder zugespitzt gesagt: Warum helfen Diäten nicht?

Übergewichtige Menschen haben ja schon eine gewisse Körpermasse, die einen höheren Energiebedarf hat als bei Normalgewichtigen. Sie müssen also mehr essen und das fordert der Körper auch durch ausgeklügelte biopsychologische Mechanismen ein.

Warum aber hilft beispielsweise eine Diät langfristig fast nie? Studien haben gezeigt, dass selbst in realistischen, professionellen Ansätzen, in denen empfohlen wird, über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten fünf bis zehn Prozent des Körpergewichts zu verlieren, die meisten Teilnehmer nach spätestens fünf Jahren ihr Ausgangsgewicht wieder erreicht oder sogar überschritten haben. Dafür spielen biologische und psychologische Prozesse eine Rolle, insbesondere der beschriebene Umgang mit Emotionen und Impulsivität, aber auch Stress.

Aus unserer psychologischen Forschung wissen wir, dass insbesondere die Menschen auch langfristig ihr verringertes Gewicht halten können, die besser planen und mit Stress umgehen können. Was außerdem oft bei Diäten missachtet wird: Sie können zu Essstörungen führen. Wir haben in unseren Studien beobachtet, dass Personen dadurch ein sehr gestörtes Verhältnis zu Essen entwickeln und beispielsweise ihr natürliches Gefühl für Hunger und Sättigung vollkommen verloren haben.

Wenn Diäten nicht wirken, was lässt sich dann gegen Adipositas tun?

Für einen langfristigen Erfolg muss man die tieferliegenden Ursachen angehen, insbesondere in Form von Verhaltenstherapien im Umgang mit Emotionen, Impulsivität, Belohnungen und planvollem Verhalten. Zudem spielt regelmäßige Bewegung eine ganz entscheidende Rolle. Das sind alles langwierige Prozesse, aber nur die sind auch auf lange Sicht erfolgsversprechend.

Mit welchen Fragen beschäftigen Sie sich aktuell in Ihrer Forschung dazu?

Zum einen beschäftigen wir uns aktuell mit den psychologischen Ursachen von Adipositas und untersuchen dabei beispielsweise den Zusammenhang zwischen Essstörungen und ADHS. Wir haben etwa herausgefunden, dass viele Kinder, die unter ADHS leiden, entgegen der bisher gängigen Vorstellung nicht generell zu mehr Bewegung und damit Energieverbrauch neigen, sondern häufig zu impulsivem Essen.

Außerdem interessiert uns hier, welche Auswirkungen die Stigmatisierung von Übergewicht hat und wie diese wiederum das Übergewicht und das Unwohlfühlen noch verstärken.

Zum anderen erforschen wir verschiedene Möglichkeiten der Therapie und deren Effektivität, insbesondere zur psychologischen und medizinischen Behandlung der Binge-Eating-Störung, beispielsweise das sogenannte Neurofeedback. Aktuell arbeiten wir hier an einer großen Behandlungsleitlinie für diese Essstörung. Andererseits entwickeln wir gerade mögliche Therapieansätze, die speziell auf Jugendliche zugeschnitten sind, die besonders häufig mit Motivationsproblemen zu kämpfen haben.

Hintergrund

Im Integrierte Forschungs- und Behandlungszentrum (IFB) AdipositasErkrankungen erforschen und therapieren rund 50 Wissenschaftler und Ärzte starkes Übergewicht und dessen Folgeerkrankungen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Das Themenspektrum der wissenschaftlichen Arbeit im IFB AdipositasErkrankungen reicht von der Erforschung von psychosozialen Aspekten, Adipositas-Genen, Hormonen der Fettzellen, Adipositas bei Kindern, Gehirnaktivitäten bis hin zu chirurgischen Therapieansätzen. Fächerübergreifend und in enger Kooperation mit dem Universitätsklinikum wird grundlagen- und patientenbezogene Forschung und die Behandlung adipöser Menschen unter einem Dach vereint.

Erkenntnisse aus der Wissenschaft können so schneller in die Adipositastherapie einfließen, gleichzeitig ergeben sich aus der Behandlung neue Fragestellungen für die Forschung. Das Zentrum wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Adipositas-Forschung in Leipzig

Die Adipositas-Forschung ist seit vielen Jahren ein Schwerpunkt der Universität Leipzig. Auch der Wissenschaftsrat attestierte dem Standort zuletzt herausragende Kompetenzen in diesem Bereich. Im Februar 2018 hat die Universität Leipzig einen Vollantrag für das Exzellenzcluster „Adipositas verstehen“ in der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder eingereicht.

Das Projekt verfolgt einen interdisziplinären Ansatz, der die Medizin mit den Sozial- und Geisteswissenschaften verbindet. Denn Ursachen und Folgen von Adipositas sind kein rein medizinisches Thema, sondern eingebettet in unsere Kultur und Gesellschaft. Wirksame Präventions- und Therapiestrategien müssen daher in diesem Kontext entwickelt und gedacht werden.

Verena Müller

Hinweis:
Prof. Dr. Anja Hilbert ist eine von mehr als 150 Experten der Universität Leipzig, auf deren Fachwissen Sie mithilfe unseres Expertendienstes zurückgreifen können.

Weitere Informationen:
Prof. Dr. Anja Hilbert
Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie
Telefon: +49 341 97-13560
anja.hilbert@medizin.uni-leipzig.de

Weitere Informationen:

Quelle: Susann Huster Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig