Marktbereinigung statt Ernährungsaufklärung / Nutri-Score ist Verbraucher-Manipulation

Die gemeinsam von Nahrungsmittel-Multis und Foodwatch als Transparenz für die Verbraucher deklarierte Ampel, die angeblich zu einer gesunden Ernährung beitragen soll, ist eine Irreführung der Konsumenten mit dem strategischen Ziel, Verkaufsförderung und Marktbereinigung zu perfektionieren. Die Prinzipien einer ausgewogenen Ernährung werden aufgegeben, um mit Schein-Informationen das Einkaufsverhalten und damit in der Konsequenz die Nahrungsmittel-Versorgung der Menschen zu dirigieren. Das beschneidet nicht nur Freiheiten, sondern ist auch ungesund.

Wir lernen, was gesunde Ernährung ist. Regelmäßig Fischstäbchen mit Fertigpommes aus der Tüte. Zur kulinarischen Abwechslung gibt es dann ein in Folie verschweißtes Fertiggericht mit Schnitzel, Spaghetti und Tomatensoße. Im Interesse seiner Gesundheit sollte der Verbraucher schädliche Produkte wie Nüsse oder Olivenöl meiden. Unsicher ist es, mit frischem Gemüse selbst zu kochen. Bei Pflanzen wie Kartoffeln, Porree, Möhren etc. fehlen die Aufkleber, die bei fertig zubereiteten Gerichten den Wert für Gesundheit, Sicherheit und Wohlbefinden signalisieren. Die Verarbeitung von frischen Feldfrüchten erfolgt also auf eigenes Risiko.

Plakativ soll künftig auf den Verpackungen von Nahrungsmitteln der Nutri-Score prangen, der als wissenschaftlich anmutender Beipackzettel farbenfroh signalisiert, was man aus Regal und Tiefkühltruhe nehmen oder besser liegen lassen sollte. Grün ist die Hoffnung auf gesunde Ernährung und rot ist eine gelernte Warnfarbe. Niemand muss sich mehr Gedanken über eine ausgewogene Ernährung machen. Ob Mann, Frau oder Kind ist beim Score egal. Die Ernährungsbotschaft gilt für alle Menschen unabhängig von ihrem individuellen Bedarf. Komplizierte Aspekte wie der Tagesbedarf an Nährstoffen oder die Kalorien zählen nicht mehr. Dieses Label wird die Verbraucher erstens um den Verstand und zweitens um eine ausbalancierte Ernährung bringen.

Der Nutri-Score ist die willkürliche Umsetzung von scheinbar wissenschaftlichen Annahmen und Behauptungen, mit denen Konzerne versuchen, zumindest eine Auswahl ihrer Produkte in einem guten Licht erscheinen zu lassen. Das mag für das individuelle Marketing dieser Unternehmen vorteilhaft sein, für den Verbraucher ist es die pure Verwirrung. Er wird im Handel feststellen, dass ein mit C gekennzeichnetes Rapsöl offenbar besser ist als ein mit D markiertes Olivenöl. Warum soll Olivenöl, das ganz wesentlich zu der immer wieder gepriesenen mediterranen Küche gehört, jetzt eigentlich schädlich sein? Soll er sich für ein Roggenbrot mit A entscheiden, weil ein Knäckebrot nur mit C gekennzeichnet ist? Warum ist ein mit D markierter Räucherlachs ungesund während ein gefrorener Lachs als gesund mit A gekennzeichnet wird? Ein Fertiggericht mit Schnitzel, Spaghetti und Tomatensauce aus der Retorte erweckt mit A den sicheren Eindruck, es sei als tägliches Nahrungsmittel für die Gesundheit besonders wertvoll.

Nüsse sind eh schlecht, weil sie nur ein D bekommen. Und ein Apfelmus mit 17 Gramm Zucker pro 100 Gramm hat ein A während man von einem Apfelsaft mit nur 10,5 Gramm Zucker pro 100  Gramm wegen des C wohl besser die Finger lassen sollte. Vor Smoothies wird mit einem E gewarnt. Da ist es doch besser, eine Diät-Cola mit B zu trinken. Auch der Produzent von mit einem lindgrünen B gekennzeichneten Fischstäbchen ist fein raus. Sie können täglich mit den Fertigpommes, die ein sattgrünes A haben, kombiniert werden. Endlich wissen wir, was dem Körper gut tut: regelmäßig Fischstäbchen mit Pommes. Es drängt sich der Verdacht auf, dass der Nutri-Score wohl kaum der richtige Weg zur gesunden Ernährung ist. Er ist Verbrauchertäuschung.

Der Irrweg des Nutri-Scores lässt sich am Beispiel von Nudeln transparent machen. Fertigprodukte, die so genannten Ready-to-eat-Produkte, also verzehrfertig vorbereitete Nudeln in der Konserve oder der Folie, schneiden besser ab als Nudeln, die in der Küche selbst zubereitet werden müssen. Dies liegt an ihrem höheren Wassergehalt, der ihnen einen Vorteil verschafft. Herkömmliche Nudeln in der Packung, die zu Hause noch selbst im Wasser zu kochen sind, werden mit dem Trockengewicht berechnet. Das lässt sie schlechter abschneiden als die industriell gekochte Nudel in der Dose. Die fürsorgliche Hausfrau nimmt aus Sorge um die Gesundheit der Familie dann doch lieber die mit Wasser angereicherten Konservennudeln und spart zudem auch noch die Zeit, diese selbst kochen zu müssen. Dosenöffner und Mikrowelle werden damit zu Instrumenten einer gesunden Küche.

Die Bewertung eines isoliert betrachteten Nahrungsmittels sagt über seinen eigentlichen Wert nichts aus. Ein einzelnes Lebensmittel ist vielmehr Bestandteil einer aus der Kombination zahlreicher Lebensmittel bestehenden Ernährung. Die Summe ist dann auch verantwortlich für die Nähstoffbilanz und nicht zuletzt das Gewicht des Menschen. Im Hinblick auf Verzehrhäufigkeit und Verzehrmenge gibt der Nutri-Score keine Informationen. Kann er auch nicht, weil die Ernährung von Menschen sehr individuell durch Präferenzen, Lebensumstände, Geschmack etc. geprägt wird. Noch gravierender ist die Tatsache, dass der Nutri-Score nicht über den Kaloriengehalt informiert. Wer also eifrig mit einem grünen A gekennzeichnete Produkte kauft, in reichlicher Menge verzehrt und dabei ganz ruhig auf dem Sofa sitzen bleibt, wird zu der im Selbstversuch gewonnenen Erkenntnis gelangen, dass der Kaloriengehalt in Relation zum Kalorienverbrauch entscheidende Bedeutung für das Körpergewicht hat. Trotz der grünen As auf seinen gekauften Kartons wird er dick.

Das Wissen, wie individuell ausgewogene Ernährung aussehen sollte, wird durch den Nutri-Score überflüssig gemacht. Wer muss sich schon mit Kohlenhydraten, Eiweiß und Fett, einzelnen Nährstoffen oder Vitaminen beschäftigen, wenn die Vorderseite der Verpackung von Nahrungsmitteln signalisiert, was aus den Regalen des Handels in den Kühlschrank wandern sollte?

International agierenden Konzernen, denen die Foodwatch-Aktivisten jetzt helfen, geht es um die Konsolidierung des Marktes. So nennt man es, wenn unliebsame Wettbewerber aus dem Markt gedrängt werden. Der Nutri-Score kann helfen, die Vielfalt der Konkurrenz zu eliminieren. Interessante und für viele Verbraucher attraktive Nahrungsmittel, die keinen Score oder einen schlechten haben, sind im Nachteil. Die international agierenden Massen-Fabrikanten setzen auf den Windkanal der Reformulierung, um ihre Rezepturen scoregerecht zu stylen. Kleine und mittlere Hersteller bleiben mit ihren Spezialitäten auf der Strecke.

Diese Ampel bedient die Marketing-Interessen von Herstellern, die ihre Produkte in Konkurrenz zu anderen Produkten durch möglichst grüne Farbtöne schmücken wollen. Sie wollen im Wettbewerb mit vergleichbaren Produkten Präferenzen beim Kaufverhalten initiieren. Die Entscheidung, was gesunde Ernährung ist, wird in die Marketing-Abteilungen der Nahrungsmittel-Produzenten verlegt.

Der Nutri-Score ist Ausdruck eines Ernährungs-Diktats, das Menschen dazu verführt, Vielfalt und Balance ihrer Ernährung aufzugeben. Zu einer ausgewogenen Ernährung gehört die Kombination von vielen Lebensmitteln mit unterschiedlichen Nährwertgehalten. Fleisch, Fisch, Käse, Wurst, Brot, Gemüse und viele andere Bausteine mehr machen in ihrer Summe die Ernährung aus. Genau darauf versperrt der Nutri-Score den notwendigen Blick. Er ist Verbraucher-Manipulation. Durch die isolierte Betrachtung eines einzelnen Produkts, bei dem es weder Informationen über den Kaloriengehalt noch den Anteil von Rezeptur-Komponenten an einem durchschnittlichen Tagesbedarf gibt, wird der Verbraucher dazu verführt, das Produkt als gesund oder ungesund zu bewerten. Das stellt die Realität der Ernährung, die eine Summe der verzehrten Nahrungsmittel ist, auf den Kopf. Alle bisherigen Bemühungen, seriös über Ernährung zu informieren, werden damit ad absurdum geführt. Aus der Summe vieler grün gekennzeichneter Produkte resultiert keine Ernährung, die insgesamt eine grüne Bewertung verdienen würde.

Autor: Detlef Brendel