Der Ernährungs-GAU / Gesundheit aus Folie und Mikrowelle

Detlef Brendel, Autor des Buches „Schluss mit Essverboten“, zur Zukunft von Food-Journalismus und Ernährungsberatung

Seit dem Praktischen Kochbuch von Henriette Davidis im Jahr 1845 haben sich Heerscharen von Autoren und viele Verlage um kreative Impulse für eine abwechslungsreiche Küche verdient gemacht. Ernährungsberatung und Ernährungstherapie wurden entwickelt, das interdisziplinäre Studienfach Ökotrophologie installiert. Das Internet bietet über einhundert Millionen Ergebnisse wenn man „selbst kochen“ eingibt.

Die um die Gesundheit ihrer Familie besorgte Hausfrau und der auf gesunde Kost achtende Hausmann müssen sich künftig nicht mehr mit Rezepten, Empfehlungen oder Ernährungstheorien herumschlagen. Von Redaktionen müssen nicht mehr gemeinsam mit Köchen und Food-Fotografen Koch-Tipps und phantasievolle Schlankheitsdiäten entwickelt werden. Beiträge über die Vorzüge mediterraner Küche sind überflüssig. Food-Journalismus wird ein verzichtbares redaktionelles Ressort. Der Nutri-Score, im Prinzip eine fünf-stufige Ampel von grün bis rot, signalisiert vermeintlich gesunde oder weniger gesunde Produkte. Vielen Verbrauchern wird das reichen.

Im Jahr 2006 hatte die Europäische Union eigentlich beschlossen, der kreativen Werbung mit nicht beweisbaren Aussagen über den gesundheitlichen Wert von Nahrungsmitteln ein Ende zu setzen. Zugelassene Health Claims wurden verlangt. Jetzt kommt die gesundheitsbezogene Aussage für Fischstäbchen oder den Linseneintopf aus der Dose durch die kalte Küche. Der Nutri-Score ist ein Gesundheitsversprechen, das die sich leichtfertig daran orientierenden Verbraucher zu einer absurden Kost verleiten wird.

Wer feststellt, dass auf der fünf-stufigen Gesundheitsskala die vorgekochten Nudeln besser bewertet werden als die noch mit Zubereitung verbundene Trockenware, wird den gesünderen Weg nehmen und das eigene Wasser sparen. Komplette Mahlzeiten aus der Folie, von Score-Designern im Labor passend gestylt, werden mit einem grünen A ein gesundes Leben signalisieren. Für den Backofen konstruierte Fertigpommes sind top. Frische Kartoffeln haben dagegen kein grünes A. Frisches Gemüse und viele andere Zutaten für ein ausgewogenes Essen auch nicht. Diese Produkte sind dann vor allem für risikofreudige Kochaktivisten geeignet. Und Vorsicht vor Olivenöl, das wegen eines roten D zu Siechtum führen kann. Die Liste der Unglaublichkeiten ist beim Nutri-Score lang. Als gesund wird vor allem industriell gefertigte Kost mit hoher Verarbeitungstiefe gekennzeichnet, die im Labor trickreich den Score-Kriterien angepasst wurde. Prof. Peter Stehle, Ernährungswissenschaftler und ehemaliger Präsident der DGE, stellt dazu fest: „Dann habe ich zwar eine grüne Bewertung, aber ein Lebensmittel, das überhaupt keinen Sinn mehr hat.“

Kochen mit Folienschere, Dosenöffner und Mikrowelle wird zum neuen Leitbild der Küche. Mit der angeblichen Verbraucheraufklärung durch den Score sind einige Lebensmittel-Multis mit lauter Unterstützung der Essensretter von Foodwatch auf dem fatalen Weg, gesundheitsbezogene Aussagen zu institutionalisieren, Einkaufsverhalten und Essgewohnheiten zu manipulieren und einer ausbalancierten Ernährung zu schaden. Stichwort Balance: Der Verzehr reichlich grün gekennzeichneter Produkte ohne eine Balance durch aktiven Lebensstil wird die Menschen nicht schlanker, sondern fülliger machen. Dann gibt es doch noch Arbeit für die Ernährungsberatung.