Fall Wilke: foodwatch stellt Strafanzeige gegen Ministerin Hinz und Landrat Kubat

Verbraucherorganisation veröffentlicht 270 Seiten Behördendokumente zum Listerien-Skandal.

Im Lebensmittelskandal um den Wursthersteller Wilke hat foodwatch bei der Staatsanwaltschaft Kassel Strafanzeige gegen hessische Behördenvertreter gestellt. Die Anzeige richtet sich gegen Landesverbraucherschutzministerin Priska Hinz, den Landrat des Landkreises Waldeck-Frankenberg, Reinhard Kubat, und gegen weitere Verantwortliche in Ministerium, Landkreis und Regierungspräsidium Kassel. Das gab die Verbraucherorganisation am Sonntag bekannt. foodwatch wirft den Behördenvertretern vor, durch pflichtwidriges Handeln und gravierende Verstöße gegen das Lebensmittelrecht wesentlich zu dem Listerien-Fall beigetragen zu haben, mit dem mindestens 38 Erkrankte und drei Todesfälle in Verbindung gebracht werden.

„Es wäre richtig, wenn nicht nur gegen Wilke-Vertreter, sondern auch gegen die Behördenverantwortlichen ermittelt wird, deren schwere Versäumnisse ganz entscheidend für einen mangelhaften Verbraucherschutz waren“, erklärte foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker.

Auf 17 Seiten und mit zahlreichen Anlagen hat die Verbraucherorganisation gegenüber der Staatsanwaltschaft begründet, worin sie die Versäumnisse sieht: Demnach mangele es in Hessen grundsätzlich und speziell im Landkreis Waldeck-Frankenberg bereits an den strukturellen und personellen Voraussetzungen für funktionierende Lebensmittelkontrollen. Dem Landkreisamt habe es zudem an der nötigen Unabhängigkeit gefehlt. Wenn Hygiene- oder bauliche Mängel bei Wilke auffielen, seien diese nicht hinreichend abgestellt oder sogar geduldet worden – Regierungspräsidium Kassel und das hessische Verbraucherschutzministerium als Fachaufsicht griffen nicht ein. Auch im akuten Krisenmanagement bei Wilke kam es nach Einschätzung von foodwatch zu schweren Fehlern: „Die Behörden hätten bereits erheblich früher öffentliche Rückrufe von nachweislich keimbelasteten Waren veranlassen müssen und durch ein konsequentes Durchgreifen verhindern müssen, dass Wilke einfach weiter produziert. Am Ende hielten die Behörden gesundheitsrelevante Angaben über Wilke-Verkaufsstellen zurück“, so foodwatch-Chef Martin Rücker.

Mehrfach im Jahr 2019 entschieden die Behörden nach Listeriennachweisen auf Wilke-Produkten, die Öffentlichkeit nicht zu informieren – nach Einschätzung von foodwatch gravierende Fehlentscheidungen. Sie zeigten auch die Notwendigkeit für eine gesetzliche Klarstellung: Im deutschen Lebensmittelrecht müsste ohne jeden Ermessensspielraum eine Verpflichtung der Behörden verankert werden, vor potenziell gesundheitsgefährdenden Produkten öffentlich zu warnen, so die Forderung von foodwatch.

Mehr als 270 Seiten Behördendokumente zum Wilke-Fall veröffentlicht

foodwatch stützte seine Strafanzeige auf öffentlich verfügbare Informationen und auf eigene Recherchen – so auch auf mehr als 270 Seiten bisher öffentlich unbekannte Behördendokumente, die die Verbraucherorganisation heute im Internet veröffentlichte. Die Dokumente enthalten zahlreiche amtliche Berichte von Kontrollen bei der Firma Wilke aus den Jahren 2018 und 2019 sowie Sachstandsberichte und Korrespondenz zwischen den beteiligten hessischen Behörden, vor allem Ministerium, Landkreis Waldeck-Frankenberg und Regierungspräsidium Kassel. Die Dokumente zeichnen das Bild einer lückenhaften und ineffektiven Kontrolle durch den Landkreis, zudem entsteht aus Sicht von foodwatch mehrfach der Eindruck, der Landkreis versuchte, das Unternehmen zu schützen und die Mängel zu beschönigen.

Die gut 270 Seiten zeigen:

Mehr als einmal gab es erhebliche Missstimmungen zwischen den Behörden. So beschwerte sich am 27. September 2019 und damit wenige Tage vor der Betriebsschließung ein Landkreis-Vertreter, dass das Protokoll einer Behördenbesprechung „ohne vorherige Absprachen“ in seiner Endfassung verschickt worden sei – er selbst sei „höchst interessiert“ an einer „sachlichen und konstruktiven Zusammenarbeit“ und die Firma Wilke sei es „ebenso“. Zuvor hielt ein Verantwortlicher im Regierungspräsidium Kassel fest: „Der Landrat hat mich […] zu keiner Zeit über schwerwiegende Hygienemängel informiert. Vor und nach der Besprechung [am 5.9.2019; Anm. foodwatch] waren mir die später vom Landrat dokumentierten gravierenden Mängel nicht bekannt. Vielmehr ging ich […] davon aus, dass die Probleme nicht so gravierend seien, sondern in den Griff zu bekommen wären.“

Bereits Ende August 2019 lagen den hessischen Behörden bis hinauf ins Ministerium „Liefer- und Produktlisten“ von Wilke vor; erneut wurden Ende September „Lieferlisten der Firma Wilke“ ausgetauscht – jene Angaben, die sie bis heute nicht öffentlich machten, obwohl sie den Verbraucherinnen und Verbrauchern konkrete Hinweise auf die wegen einer möglichen Listerienbelastung zurückgerufenen Produkte hätten geben können.

Kontrolleure fanden bei Wilke im August und September 2019 auch Lebensmittel, „deren Mindesthaltbarkeitsdatum zum Teil über Jahre abgelaufen war“. Insgesamt entsteht aus den annähernd 20 Kontrollberichten von 2018 und 2019 der Eindruck, als sei z.T. nur punktuell kontrolliert worden (einzelne Räume statt großflächig) und als habe das Unternehmen dabei nicht immer besonders kooperativ agiert. Zitat aus dem Kontrollbericht vom 28. August 2019: „Der Konfiskatraum wurde offensichtlich vor Kontrolle mit einem Bügelschloss verschlossen. Auf Drängen fand man den Schlüssel – hier herrschte das reinste Chaos. Der Raum war gefüllt mit völlig vergammelter Ware, Schimmel, Fäulnis, Gestank…… am Boden war eine stinkende Flüssigkeit, durch diese Flüssigkeit fuhr man nach den Spuren zu bemessen mit Gefährt Ware nach draußen (Konfiskat?), anschließend wieder durch die stinkende Flüssigkeit in ‚reine Räume‘.“ [Anm. foodwatch: Unter Konfiskat werden üblicherweise Schlachtabfälle und andere tierische Bestandteile verstanden, die zur Entsorgung bestimmt sind.]

Allein im Jahr 2019 verhängte der Landkreis Wadeck-Frankenberg vier Mal Bußgelder (jeweils in vierstelliger Größenordnung) gegen die Firma Wilke. Diese führten erkennbar nicht dazu, dass das Unternehmen anschließend die lebensmittelrechtlichen Vorgaben einhielt. Nach Einschätzung von foodwatch verstieß der Landkreis zudem gegen die Pflicht zur Veröffentlichung von nicht unerheblichen Verstößen mit Bußgeldern in dieser Größenordnung.
Die Zusammenarbeit mit dem (nach der Betriebsschließung) eingesetzten Insolvenzverwalter war aus Sicht der Behörden offenbar problematisch. In den Behördendokumenten ist „mangelnde Mitarbeit und Erreichbarkeit“ notiert; nachdem der Insolvenzverwalter die Entsorgungspflichten der gesperrten Wilke-Produkte offenbar in Frage gestellt hat, fragte der Landkreis beim Ministerium an, ob Wilke-Ware „ggf. an Tiere in Wildparks verfüttert werden könne“ – dies wurde letztlich abschlägig beschieden.

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Quelle: foodwatch