Corona-Krise: foodwatch fordert Sofortprogramm gegen Ernährungsarmut

Ausgewogene Ernährung für einkommensschwache Familien und Rentner nicht gewährleistet. Ernährungswissenschaftler warnen vor gesundheitlichen Folgen für Kinder.

Die Verbraucherorganisation foodwatch hat ein Sofortprogramm gegen Ernährungsarmut gefordert. Durch die Corona-Krise sei die ausreichende und ausgewogene Ernährung von Millionen Menschen in Deutschland nicht gewährleistet. Auch die Ernährungswissenschaftler Ulrike Arens-Azevêdo und Hans-Konrad Biesalski – beide Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz von Bundesernährungsministerin Julia Klöckner – warnen vor gesundheitlichen Folgen insbesondere für Kinder. foodwatch fordert Bundesfamilienministerin Franziska Giffey und Bundessozialminister Hubertus Heil auf, Einkommensschwache finanziell zu unterstützen und bundesweite Hilfsangebote zu koordinieren, um Hunger und Mangelernährung vorzubeugen.

Die Corona-Krise hat schwerwiegende Folgen für die Ernährungssituation einkommensschwacher Bevölkerungsgruppen

Mehr als sechs Millionen Menschen – Empfänger von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe, Asylbewerber sowie Rentner in Grundsicherung – erhalten über die Regelsätze höchstens rund 150 Euro für Lebensmittel pro Monat. Weil viele damit nicht auskommen oder mit dem eigentlich für Nahrung vorgesehenen Anteil andere Bedarfe (Bildung, Energie, Verkehr) finanzieren, greifen viele auf kostenlose Essensangebote wie Tafeln oder Mittagstische für Rentner zurück. Eine Vielzahl dieser Angebote – bundesweit allein etwa die Hälfte der 950 Tafeln – ist aufgrund der Coronavirus-Pandemie jedoch geschlossen. Gleiches gilt für Einrichtungen für Wohnungslose.

Kinder aus Familien mit geringem Einkommen haben Anspruch auf ein kostenloses Mittagessen in Schule oder Kindergarten – der entfällt, seitdem diese Einrichtungen geschlossen sind. Das führt zu erheblichen Mehrkosten für die Familien. Zudem mussten auch Einrichtungen wie die Arche schließen, die armutsgefährdete Kinder mit Essen versorgten. Gerade bei Einkommensschwachen verringert die Corona-Krise durch Jobverluste und Kurzarbeit das verfügbare Einkommen zusätzlich.

Gleichzeitig steigen die Preise für Lebensmittel. Laut Agrarmarkt Informations-Gesellschaft (AMI) trifft dies besonders Nahrungsmittel, die relevant für eine ausgewogene Ernährung sind. So kostete Frischobst im März rund 13 Prozent mehr als vor einem Jahr, Gemüse rund 6 Prozent. Während die AMI Kostensteigerungen bei Obst vor allem auf geringere Ernten zurückführt, sahen die Experten die Teuerungen bei Gemüse im direkten Zusammenhang mit der gestiegenen Nachfrage durch die Corona-Krise. Offenbar führt die derzeit hohe Nachfrage zudem dazu, dass besonders günstige Produkte in einer Kategorie schneller ausverkauft sind und Menschen beim Einkauf auf teurere Alternativen zurückgreifen müssen.

Menschen, die darauf angewiesen waren, auf der Straße Einkünfte zu erzielen – ob durch den Verkauf von Straßenzeitungen, Straßenmusik oder auch durch Bettelei – sind ihre Einnahmemöglichkeiten weitgehend weggebrochen. Das trifft auch Menschen aus einigen osteuropäischen Ländern, die keinerlei Anspruch auf staatliche Unterstützung haben und die zum Teil kein verfügbares Einkommen für die eigene Ernährung mehr haben.

„Trotz eines milliardenschweren Corona-Schutzschirms lässt die Bundesregierung gerade die Schwächsten der Gesellschaft im Regen stehen. Wenn der Staat nicht unverzüglich hilft, wird die Corona-Krise auch noch zu einem Programm für Hunger und Mangelernährung“, erklärte foodwatch-Geschäftsführer Martin Rücker. „Es ist ein schwerwiegendes Staatsversagen, dass in einem reichen Land eine ausreichende Ernährung vieler Menschen ohne kostenlose Mittagessen in Tafeln und anderen philantropischen Einrichtungen nicht sichergestellt ist.

Wenn solche Angebote jetzt auch noch wegfallen, müssen Frau Giffey und Herr Heil einspringen. Wir brauchen dringend ein Corona-Teilhabepaket für die Schwächsten.“ Der Paritätische Gesamtverband und das Deutsche Kinderhilfswerk verlangen bereits einen vorübergehenden Aufschlag auf den Regelsatz um 100 Euro pro Monat. foodwatch unterstützt die Forderung nach einer Aufstockung der Regelsätze und fordert die Bundesregierung auf, einen bundesweiten Koordinator für Ernährungssicherheit einzusetzen. Dieser müsse mit einem angemessenen Etat ausgestattet sein und dafür Sorge tragen, dass keine Menschen in Deutschland durch die Corona-Krise von Hunger oder Fehlernährung bedroht sind.

Ernährungsarmut sei „ein übersehenes Problem mit sichtbaren Folgen“ insbesondere für Kinder, sagte der Ernährungsmediziner Hans-Konrad Biesalski, emeritierter Professor an der Universität Hohenheim: „Kann eine für ein Kind ausgewogene Ernährung nicht finanziert werden, so bedeutet dies Ernährungsarmut. Sind vor allem Vitamine und Mineralien nicht altersentsprechend ausreichend, so drohen körperliche und kognitive Entwicklungsstörungen. Dies gilt vor allem für Kinder in den wichtigen Entwicklungsphasen bis zum fünften Lebensjahr. Sie bleiben im Wachstum zurück und haben häufiger Probleme in der Schule.“

Die Ökotrophologin Ulrike Arens-Azevêdo, ehemals Professorin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg und von 2016 bis 2019 Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), verweist darauf, dass in Deutschland rund 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche (unter 18 Jahren) als armutsgefährdet eingestuft werden:

„Für diese Kinder ist die derzeitige Situation besonders gravierend. Nach dem Bildungs- und Teilhabepaket hätten sie Anrecht auf eine kostenfreie Mittagsverpflegung in Kita und Schule. Da Kindertagesstätten und Schulen derzeit geschlossen sind, fällt diese warme Mahlzeit weg. Verschärft wird die Situation dadurch, dass auch die meisten Ausgabestellen der Tafeln nicht mehr bedient werden können. Eine gesundheitsfördernde Ernährung, die besonders wichtig wäre, um das Immunsystem und die Abwehrkräfte zu stärken, ist unter diesen Bedingungen in den armutsgefährdeten Haushalten nicht mehr möglich.“

Quelle: foodwatch