Wie wollen wir wirtschaften und produzieren?
Die Kläranlage wird zur Gemüsefarm, aus Abfällen zurückgewonnene biobasierte Stoffe verhindern in Lebensmittelverpackungen oxidativen Verderb oder liefern auf Funktionstextilien wasserabweisende Schichten, die weder Mensch noch Umwelt belasten. In dem vom Fraunhofer IGB koordinierten Projekt EVOBIO arbeiten 19 Fraunhofer-Institute an Lösungen für eine nachhaltige Wirtschaft. Hierzu haben sie neue Verfahrenskonzepte entwickelt, mit denen Stoffströme in bioökonomischen Prozesskreisläufen zur Herstellung optimierter Materialien für innovative Produkte genutzt werden können.
Von der Umweltverschmutzung bis zum Klimawandel – die Krisen unserer Zeit sind menschengemacht. Der Preis für eine auf Masse getrimmte Landwirtschaft und die sorglose Nutzung von Kohle, Erdöl & Co ist hoch. Höchste Zeit, die Frage zu beantworten, wie wir wirtschaften und produzieren wollen, ohne damit der Umwelt, dem Klima, wertvollen Ökosystemen und letztlich dem Menschen zu schaden.
Im Projekt EVOBIO haben sich 19 Fraunhofer-Institute zusammengeschlossen, um innerhalb von fünf Monaten Konzepte und Module für eine neue Art des Wirtschaftens zu entwickeln und an ausgewählten Beispielen zu demonstrieren. »Wir wollen die industrielle Wertschöpfungskette, bei der Rohstoffe zu Materialien verarbeitet werden, um aus diesen Produkte herzustellen, neu denken«, sagt Dr. Markus Wolperdinger, Leiter des Fraunhofer IGB. Gemeinsam mit Professor Alexander Böker, dem Leiter des Fraunhofer IAP, und Professorin Andrea Büttner, Leiterin des Fraunhofer IVV, hat er das Projekt im Rahmen des Fraunhofer Strategischen Forschungsfelds Bioökonomie vorangetrieben. »Nebenprodukte oder Reststoffe sollen nicht entstehen oder – nach dem Vorbild der Natur – rückstandsfrei wieder in den Stoff- und Materialkreislauf zurückgeführt werden«, so Wolperdinger.
Abwasser, Abfall und CO2 als Ressource nutzen
Dass das funktioniert, hat EVOBIO bereits gezeigt: Eine Kläranlage etwa wurde zu einem zentralen Bestandteil eines regionalen Kreislaufwirtschaftssystems ausgebaut. Die technische Basis hierfür legt die sogenannte Hochlastfaulung. Eine auf der Kläranlage Ulm installierte Pilotanlage setzt Klärschlamm dabei nicht nur zu Biogas als regenerativer Kohlenstoff- und Energiequelle um, sondern liefert Schlammwasser und Gärreste als weitere Stoffströme. Das nährstoffreiche Schlammwasser nutzen die EVOBIO-Partner z. B. als Wachstumsmedium für einzellige Mikroalgen. Diese produzieren Polysaccharide, die Pflanzen bei der Abwehr von Pilzinfektionen wie Mehltau unterstützen und Pestizide ersetzen.
Genauso gut eignet sich das Schlammwasser für den wassergestützten Gemüseanbau: Mit dessen Nährstoffen als Dünger wächst Kopfsalat in Hydroponiksystemen binnen weniger Wochen aus Sämlingen heran. Die Feststoffe des Schlamms, die Gärreste, werden zu Wertstoffen für die Materialherstellung des nächsten Wertschöpfungsschritts aufbereitet. Mittels thermo-katalytischem Reforming gewinnen Fraunhofer-Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daraus Biokohle, Synthesegas und ein Bioöl, das in seiner Zusammensetzung Rohöl ähnelt. Neue impedanzbasierte Inline-Sensoren können das gereinigte Abwasser kontinuierlich überwachen. Sie erfassen Bakterien und messen zugleich die Konzentrationen der Nährstoffionen.
Neue Materialien aus alternativen Stoffströmen
Auf Basis der aus Abwasser oder Abfall hergestellten Rohstoffe sowie anderer biogener Rohstoffe entwickelt das Fraunhofer-Team leistungsfähige Materialien. Diese haben teilweise neue und zusätzliche Funktionen und sollen künftig petrochemische Materialien ersetzen. Ein Schwerpunkt der Entwicklungen sind biobasierte Polymerblends unter Einsatz von neuartigen Additiven sowie Beschichtungsformulierungen. Die Forschenden haben dabei verschiedenste Anwendungen im Blick: Aus Rapsextraktionsschrot hergestellte Proteine dienen z. B. als Sauerstoff-Barriereschichten auf Lebensmittelverpackungen. Proteinbasierte Nanofasermaterialien aus verschiedenen Rohstoffen wie Kidneybohnen und Raps werden für die Entwicklung von Filtermaterialien, Überzugsmitteln oder Wundauflagenmaterialien eingesetzt und Nanofaservliese aus Rapsprotein versponnen.
Auch biobasierte und biogene Additive sind für die grüne Ökonomie wichtig. Viele natürliche Substanzen, wie z. B. ätherische Öle oder Enzyme, sind für ihre antibakterielle, oxidative und antioxidative oder UV-absorbierende Wirkung bekannt. Eine direkte Integration von solchen Substanzen in Polymerwerkstoffe und -Prozesse ist daher generell schwierig, da die Substanzen oft in flüssiger Form vorliegen, sehr flüchtig, reaktiv oder instabil sind. Im EVOBIO-Projekt werden biogene Substanzen daher mikroverkapselt, damit sie in Beschichtungen oder extrudierten Polymerkompositen integriert werden können.
Optimierte Produkte aus biobasierten Materialien
Speziell im Verpackungsbereich gilt biobasiertes Polyethylenfuranoat (PEF) als vielversprechender Ersatz für erdölbasiertes Polyethylenterephthalat (PET), das weltweit das dominierende Material für Fasern ist. Im Rahmen des EVOBIO-Projekts synthetisiert das Team PEF für Faseranwendungen im Technikumsmaßstab. Der Ausgangsstoff ist dabei Furandicarbonsäure. Das so gewonnene PEF lässt sich sogar mittels konventioneller Schmelzspinntechnologie verspinnen und nachbehandeln, was eine potenzielle Etablierung am Markt deutlich vereinfacht. Zudem entwickeln die Forschenden Schaumstoffe aus Formgedächtnispolymer mit biobasierten Fasern und Partikeln.
Zudem werden Materialien auf Basis von Proteinen mit wasserabweisenden Eigenschaften entwickelt. Sie sollen zukünftig halogenierte Kohlenwasserstoffe bei der Ausrüstung von Funktionstextilien ersetzen. In Kombination mit Polyglucosamin aus Chitin, das aus den Schalen und Panzern von Krebsen, Krabben oder Garnelen stammt, auf saugfähigen Papieren aufgebracht, konnten die Fraunhofer-Forschenden demonstrieren, dass sich wasserabweisende und zugleich wasserdampfdurchlässige Funktionsschichten mit biobasierten und bioabbaubaren Materialien erzeugen lassen.
Ist der Markt dazu bereit?
Für den im EVOBIO-Projekt verfolgten umfassenden Ansatz müssen etablierte Wertschöpfungsketten zu miteinander kommunizierenden Wertschöpfungsnetzwerken weiterentwickelt werden. Sind die Unternehmen dazu bereit? Welche neuen Geschäftsmodelle sind notwendig, um Kläranlagen und Betriebe, in denen biogene Reststoffe anfallen, zu Produzenten sekundärer Rohstoffe und Materialien zu machen? Mit Blick auf die Verwertung der neuen bioökonomischen Verfahren bewerten die Partner Nützlichkeit, Machbarkeit und Transferpotenzial. Mittels Akzeptanzanalysen untersuchen sie, ob Unternehmen die Projektergebnisse als wertvoll betrachten. Zudem werden verschiedene Geschäftsmodellszenarien entwickelt und bezüglich Umsetzbarkeit und wirtschaftlicher Tragfähigkeit priorisiert.
Das Projekt EVOBIO
Das Projekt »Evolutionäre bioökonomische Prozesse EVOBIO – Integrative Nutzung von Stoffströmen zur Herstellung optimierter Materialien für innovative Produkte in bioökonomischen Prozesskreisläufen« startete im August 2020 unter der Federführung der Fraunhofer-Institute IGB, IAP und IVV. Es wird im Fraunhofer Innovationsprogramm gefördert und durch das Fraunhofer IGB koordiniert.
Weitere Informationen
Quelle: Fraunhofer