Ernährungsstrategie braucht definierte Prozessvereinbarungen

Der Lebensmittelverband Deutschland hat im Vorfeld der Auftaktveranstaltung der „PD – Berater der öffentlichen Hand GmbH“ im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft zur Erarbeitung einer Ernährungsstrategie 2023 Bundesminister Cem Özdemir ein Positionspapier mit den wichtigsten Prozessanforderungen zugeleitet.

Darin beschreibt der Spitzenverband der Lebensmittelwirtschaft sieben Grundprinzipien für den Arbeitsprozess einer solchen weitreichenden Strategie. Hauptgeschäftsführer Christoph Minhoff erläutert: „Grundsätzlich begrüßen wir die Idee, Leitplanken zu erarbeiten, die die Gesellschaft als Ganzes einbinden und den Weg zu einer nachhaltigeren Zukunft ebnen. Es ist richtig und wichtig, dass hier alle Akteure, die dazu bereit sind, einen Beitrag zu leisten, zur aktiven Beteiligung angesprochen sind oder noch angesprochen werden.

Aber damit es am Ende nicht zu einer substanzlosen Showveranstaltung wird und wir realistische und tragbare Lösungsansätze entwickeln, bedarf es einiger grundlegender Voraussetzungen. Allen voran, dass es sich um eine vorurteilsfreie Debatte handelt und nicht versucht wird, Kompetenzen zu überschreiten. Dazu gehört, dass die Regierung unter Achtung der Grundrechte zwar kollektive Ziele formulieren und verbindlich festlegen kann, dabei aber dem Einzelnen nicht die Freiräume des eigenen Entscheidens entziehen darf. Das heißt, der Staat hat kein Mandat dafür, den Lebenswandel erwachsener Bürgerinnen und Bürger durch moralische Erziehung oder durch Verhaltenslenkung in seinem Sinne zu verändern.“

Die sieben Grundprinzipien lauten:

1. Bereitschaft für eine aktive Beteiligung unter geeigneten Rahmenbedingen

Die Lebensmittelwirtschaft ist bereit, sich an dem Prozess der Erarbeitung der Ernährungsstrategie der Bundesregierung zu beteiligen und ihren Beitrag zu leisten. Voraussetzung hierfür ist ein gesamtgesellschaftlicher Dialog mit der Politik, den Verbraucherinnen und Verbrauchern wie auch der Zivilgesellschaft unter geeigneten Rahmenbedingungen. Diese umfassen aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft u. a. eine vorurteilsfreie Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven sowie die grundsätzliche Bereitschaft aller Akteurinnen und Akteure einen aktiven Beitrag zu der Ernährungsstrategie der Bundesregierung zu leisten.

2. Berücksichtigung aktueller Krisen

Da viele Bereiche der Lebensmittelwirtschaft sowohl durch die Corona-Krise als auch durch die Folgen des Ukraine-Kriegs finanziell stark getroffen wurden und sich gerade kleine und mittelständische Betriebe in den kommenden Monaten wirtschaftlich erst stabilisieren müssen, muss auch im Rahmen der Erarbeitung der Ernährungsstrategie der Bundesregierung eine zielorientierte Diskussion über die erforderliche Priorisierung und die Umsetzbarkeit konkreter Maßnahmen erfolgen. Dabei muss geprüft werden, was mit Blick auf die Bewältigung der Krisen wichtig und leistbar ist.

3. Das Verbraucherleitbild muss dem Leitbild des mündigen Verbrauchers entsprechen

Das im Verbraucherschutz und im Lebensmittel- bzw. Wettbewerbsrecht gültige Leitbild des mündigen Verbrauchers entspricht dem verfassungsrechtlichen Menschenbild und muss daher auch der Formulierung und Ausgestaltung der Ernährungsstrategie der Bundesregierung als gemeinsamer Orientierungsmaßstab zugrunde liegen. Danach darf der Gesetzgeber unter Achtung der Grundrechte kollektive Ziele formulieren und verbindlich machen, dabei den Menschen aber nicht die Freiräume der Selbstentfaltung und eigenes Entscheiden substantiell entziehen.

Es besteht insbesondere kein Mandat dafür, den Lebenswandel erwachsener Bürgerinnen und Bürger durch moralische Erziehung oder durch Verhaltenslenkung „zu bessern“. Übergeordnetes Ziel der Ernährungsstrategie der Bundesregierung sollte die Förderung eines insgesamt gesundheitsförderlichen Lebensstils sein. Hierfür muss in erster Linie die Ernährungskompetenz in allen Lebensphasen gezielt gestärkt werden. Gleiches gilt für den Ausbau der Bewegungsförderung, da der positive Einfluss von körperlicher Aktivität auf das Wohlbefinden und die Gesundheit vielfach belegt ist.

4. Wirtschaftlichkeit, Kohärenz und Freiwilligkeit

Bei der Definition und Benennung von Handlungsfeldern sowie kurz-, mittel- und langfristigen Zielen der Ernährungsstrategie der Bundesregierung hat die Vereinbarkeit mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen höchste Priorität für die Lebensmittelwirtschaft. Ebenso wichtig ist die Kohärenz zu bestehenden Strategiepapieren der Bundesregierung (z. B. Nachhaltigkeitsstrategie) und/oder den freiwilligen Selbstverpflichtungen der Wirtschaft (z. B. Grundsatzvereinbarung der Nationalen Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten).

Die Ernährungsstrategie muss Zielkonflikte benennen, praktikable Lösungswege aufzeigen und dabei berücksichtigen, dass es eine Unternehmensaufgabe ist, zu entscheiden, welche konkreten Maßnahmen auf Unternehmensebene ergriffen werden können. Wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist die Anerkennung und Verlässlichkeit bestehender freiwilliger Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, einschließlich des jeweils geltenden Zeithorizonts.

5. Neue Technologien und Innovationen als Schüsselelemente

Eine grundsätzliche Offenheit gegenüber neuen Technologien und Innovationen entlang der gesamten Wertschöpfungskette ist aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft ein unverzichtbarer Baustein für die Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Innovationen leisten einen wichtigen Beitrag zu einer genussvollen, ausgewogenen und ressourcenschonenden Ernährung. Es gilt daher, Fortschritte in allen relevanten Bereichen anzuerkennen, in die Breite zu tragen und/oder gezielt weiterzuentwickeln.

Die Handlungsfelder sind dabei vielfältig und umfassen z. B. die Entwicklung alternativer Verpackungen, neue Ansätze zur Reduzierung von vermeidbaren Lebensmittelabfällen, die Weiterentwicklung von Rezepturen und/oder die verschiedenen Konzepte für eine personalisierte Ernährung. Maßnahmen zur Innovationsförderung müssen daher einen besonderen Stellenwert im Rahmen der Ernährungsstrategie der Bundesregierung erhalten. Dabei sollte wissenschaftliche Expertise der Wirtschaft genutzt werden, um die Effektivität und Praxisrelevanz der einzelnen Maßnahmen zu gewährleisten.

6. Wissenschaftliche Basis

Maßnahmen zur Prävention von Übergewicht, Adipositas und/oder nichtübertragbaren Krankheiten müssen auf einer fundierten wissenschaftlichen Basis fußen und dürfen nicht zu einer Diskriminierung einzelner Produktgruppen- und/oder Nährstoffe führen. Weder einzelne Nährstoffe, noch einzelne Lebensmittel können per se für die Entstehung von Übergewicht, Adipositas und/ oder nichtübertragbaren Krankheiten verantwortlich gemacht werden. In einer ausgewogenen Ernährung finden alle Lebensmittel ihren Platz. Dabei leisten sowohl pflanzliche als auch tierische Lebensmittel einen wichtigen Beitrag zu einer bedarfsgerechten Energie- und Nährstoffversorgung, die nur durch eine geeignete Kombination unterschiedlicher Lebensmittel entsprechend den individuellen Bedürfnissen gelingen kann.

Zielführende Lösungsansätze im Rahmen der Ernährungsstrategie der Bundesregierung müssen daher interdisziplinär entwickelt werden. Dazu benötigen alle Beteiligten verlässliche Daten. Um zielgerichtet Maßnahmen ergreifen zu können, ist sowohl ein kontinuierliches Gesundheits- und Ernährungsmonitoring als auch ein besseres Verständnis des multikausalen Zusammenspiels unterschiedlicher Einflussfaktoren auf die Entstehung von Übergewicht, Adipositas und/oder nichtübertragbaren Krankheiten erforderlich.

7. Akzeptanz der Verbraucherinnen und Verbraucher

Die wichtigste Voraussetzung für den Erfolg aller ernährungspolitischen Maßnahmen, von denen die Lebensmittelwirtschaft direkt oder indirekt betroffen sein wird, ist die Akzeptanz und Nachfrage der Verbraucherinnen und Verbraucher sowie die Wahrung von Sicherheit, Qualität und Wirtschaftlichkeit auf allen Stufen der Wertschöpfungskette.

Quelle: Lebensmittelverband Deutschland