Beitrag zur Senkung von Übergewicht dank IGF.
Die Zahlen des Robert-Koch-Instituts sprechen eine deutliche Sprache: In Deutschland sind 46,6 % der Frauen und 60,5 % der Männer von Übergewicht betroffen – gemäß Selbstangaben in den Jahren 2019/2020, die im Schnitt auffallend niedriger als gemessene Daten sind. Die letzten Messdaten aus den Jahren 2008 bis 2011 lagen schon damals deutlich höher: Demnach war mehr als die Hälfte der Frauen (53 %) und zwei Drittel der Männer (67 %) in Deutschland von Übergewicht betroffen. Bei einem Viertel der Erwachsenen lag starkes Übergewicht – eine Adipositas – vor.
Übergewicht und die Folgekrankheiten sind national wie international ein bedeutendes Public-Health-Problem und eine große Herausforderung für das Gesundheitssystem: Die OECD-Länder geben ca. 8,4 % ihrer Gesundheitsausgaben für die Behandlung von Erkrankungen, die in Zusammenhang mit Übergewicht stehen, aus.
Eine Ursache: Fettreiche Lebensmittel
Neben mangelnder Bewegung ist der übermäßige Verzehr von energie- und fettreichen Lebensmitteln eine bekannte Ursache von Übergewicht und Adipositas und ein Risikofaktor für ernährungsbedingte Erkrankungen. Fettreiche Lebensmittel sind so beliebt, da Fett für einen guten Geschmack und ein volles Aroma sorgt; zudem spielt es auch eine entscheidende Rolle bei der Strukturierung von Lebensmitteln. Untersuchungen zufolge wählen 92 % der Verbraucherinnen und Verbraucher Lebensmittel danach aus, ob sie ihren Geschmacksvorlieben entsprechen – und das schaffen fettreiche Lebensmittel besonders gut!
Bisherige Ansätze unzureichend
Bislang wurden bereits vielfältige Konzepte für fettreduzierte Lebensmittel entwickelt: So wurden pflanzliche Polysaccharide wie Inulin oder tierische Proteine wie Kollagene oder Molke-Partikulate als Fettersatzstoffe eingesetzt, die jedoch funktionell nicht in allen Belangen den Erwartungen entsprechen oder – wie Inulin – bei zu hoher Dosierung unerwünschte physiologische Nebenwirkungen zur Folge haben können. Ein weiterer Nachteil einer erheblichen Fettreduktion besteht, neben einer Verringerung des Produktvolumens, in einer negativen Beeinflussung der Produktstruktur, die jedoch eine entscheidende Rolle für das sensorische Profil eines Lebensmittels spielt. Die komplexen Eigenschaften von Fett erschweren die Herstellung diätetischer Lebensmittel mit reduziertem Fettgehalt, die sensorisch genauso überzeugen. Letztlich ist bislang nicht ausreichend geklärt, inwiefern Produktstruktur, Inhaltsstoffe und Geschmackseindruck zusammenhängen.
Hier ist IGF gefragt!
Vor diesem Hintergrund wurde 2018 ein Projekt der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF) initiiert, mit dem ein neuartiger Ansatz aus technologischer Proteinfunktionalisierung in Kombination mit molekular-sensorischen Methoden zur nachhaltigen Fettreduktion etabliert werden sollte. Durchgeführt wurden die Arbeiten von zwei Forschungsteams der Technischen Universität München, die über viel Expertise in beiden Forschungsschwerpunkten verfügen. Am Beispiel eines typischen Milchdesserts mit 15 % Fettgehalt sollten durch den Einsatz technologisch funktionalisierter, heimischer Pflanzenproteine fettreduzierte Produkte entwickelt werden, die geschmacklich an das Original heranreichen. Die Herausforderung bestand darin, die geschmacksgebende und gleichzeitig strukturierende Funktion des Fettes vollständig oder teilweise zu ersetzen.
Für mehr Nachhaltigkeit: Heimische Rohstoffe im Einsatz
Dabei wurde durch die Forschungsstelle 1 der Ansatz gewählt, erstmalig pflanzliche Proteine mittels eines thermomechanischen Prozesses in Mikropartikulate – winzige Partikel mit einem Durchmesser im Mikrometerbereich – zu überführen und diese damit als Fettersatz zu funktionalisieren. Zum Einsatz kamen dafür Kartoffel- und Erbsenproteinisolate aus heimischem Anbau, um die Nachhaltigkeit der hiesigen Wirtschaft weiter zu stärken. Denn trotz ihres hohen Funktionalitätspotentials erfahren viele der in Deutschland bzw. Europa verfügbaren Pflanzenproteine noch keine adäquate Nutzung, so dass sie nicht oder unter Wert zum Einsatz kommen, unter anderem in der Tierfutterproduktion. Zudem ergibt sich im Vergleich zu tierischen Proteinen für den Gesamtprozess der Rohstoffherstellung und -gewinnung ein bis zu 10-fach geringerer Energie- und Wasserverbrauch; dabei werden ca. 80 % weniger Agrarflächen benötigt.
„Die aktive Teilnahme am Projektbegleitenden Ausschuss war definitiv hilfreich für meine Arbeit, da ich einige neue Erkenntnisse über die Proteinfunktionalisierung gewinnen konnte. Als Hersteller von Kartoffel- und Erbsenproteinen hat unser Haus auf jeden Fall von der Teilnahme, den Ergebnissen und den Möglichkeiten dieses IGF-Projekts des FEI profitieren können.”
Stephanie Schomakers, Research & Development Application Food bei Emsland Stärke GmbH, Emlichheim
Der Schlüssel zur sensorischen Qualität
Mit dem Ziel, durch ein umfassendes molekular-chemosensorisches Verständnis Aroma- und Geschmacksstoff-Interaktionen mit Proteinen vorhersagen zu können, wurde in Forschungsstelle 2 im ersten Schritt das Flavor-Profil des Vollfett-Milchdesserts analysiert: Durch Anwendung des Sensomics-Konzepts – die strukturelle Entschlüsselung und funktionale Rekonstruktion der chemosensorischen Signaturen von Lebensmitteln – konnte das Sensometabolom des Goldstandards mittels validierter Methoden vollständig entschlüsselt werden; das Sensometabolom umfasst die Gesamtheit an sensorisch aktiven Verbindungen, die den charakteristischen Geschmack eines Lebensmittels hervorruft. Der vollständige „Flavor“ eines Lebensmittels ergibt sich aus der Interaktion von Geschmacks-, Geruchs- und Tastempfinden. So sind neben den in der Regel nicht-flüchtigen Geschmacksstoffen auch volatile Aromastoffe entscheidend.
Auch die proteinbasierten Fettersatzstoffe wurden mit Hilfe des Sensomics-Ansatzes entschlüsselt. Auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse waren bereits einzelne Flavor-Änderungen in den fettreduzierten Varianten chemosensorisch erklärbar. Die erhobenen Daten stellten damit die Voraussetzung für eine wissensbasierte Optimierung der empfundenen Qualität dar: Geeignete Rohmaterialien konnten selektiert, die technologischen Prozessschritte der Mikropartikulation optimiert und die Qualität der Fettersatzstoffe hinsichtlich pflanzlicher Fehlaromen gezielt gesteuert werden. So konnte beispielsweise ein grasig-grünes, erbsenähnliches Aroma durch Trocknen der Mikropartikulate reduziert werden.
„Durch die Funktionalisierung von Pflanzenproteinen konnten im Rahmen des IGF-Projekts geeignete Fettersatzstoffe entwickelt werden, mit denen fettreduzierte, hybride Lebensmittel hergestellt werden können, die dem „Original“ in nichts nachstehen. Besonders überzeugend war die Entwicklung des Sensomics-Konzepts, mit dem im Vergleich zu anderen Methoden sehr viel schneller entscheidende Aroma- und Geschmacksstoffe entschlüsselt werden können – und so die Qualität von Fettersatzstoffen gezielter gesteuert werden kann. Ein echter Meilenstein!”
Dr. Martin Kersten, Section Manager Dairy Research bei Kraft Foods R&D Inc. – Mondelēz International, Unterhaching
Toolbox für die industrielle Anwendung
Die grundlegenden Erkenntnisse zur Mikropartikulation von Kartoffel- und Erbsenproteinisolaten ermöglichten es, pflanzenbasierte Mikropartikel als geeignete Fettersatzstoffe großtechnologisch mit Hilfe eines Doppelschneckenextruders zu produzieren. Um der Industrie Möglichkeiten aufzuzeigen, die verschiedene Anwendungen und Produkte abdecken, wurde das Strukturierungspotential der hergestellten Mikropartikulate sowohl in geschäumten als auch in nicht geschäumten Modellmatrizes untersucht. Die Aufschäumbarkeit sollte dabei als prozesstechnischer Ansatz bewertet werden, einer Volumenverringerung durch Fettreduktion entgegenzuwirken. Darüber hinaus wurde untersucht, ob der Einsatz von Fettsäuren das Aroma- und Geschmacksempfinden steigern kann.
Im Ergebnis konnte eine umfassende Toolbox an neu entwickelten texturellen, rheologischen sowie molekular-sensorischen Methoden für die Herstellung von funktionalisierten Mikropartikulaten aus Kartoffel- und Erbsenprotein und deren Einsatz in Milchdesserts geschaffen werden. Unter Nutzung von mikropartikuliertem Erbsenprotein wurden Milchprodukte mit einem reduzierten Fettanteil von 7,5 % entwickelt, die sich sowohl sensorisch als auch texturell nicht vom Vollfett-Original mit 15 % Fett unterschieden. Dabei dienten die Milchdesserts lediglich als Modellsysteme, so dass die Ergebnisse auch für eine Vielzahl von weiteren fettreichen Lebensmittelprodukten genutzt werden können.
Wenngleich Molkenprotein weiterhin gefragt ist, hat die Nachfrage nach pflanzlichen Proteinalternativen in den letzten Jahren bereits zugenommen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich mit den vorgestellten Möglichkeiten zur Verbesserung von Flavor und Funktionalität der Rohware und deren Einsatz in Lebensmitteln enorme Wachstumschancen, von denen insbesondere innovative kleine und mittlere Unternehmen (KMU) profitieren können.
Projektbeteiligte
Forschungsstellen:
- Technische Universität München, Zentralinstitut für Ernährungs- und Lebensmittelforschung (ZIEL), Abt. Technologie
- Technische Universität München, Forschungsdepartment Molecular Life Sciences, Lehrstuhl für Lebensmittelchemie und molekulare Sensorik
Industriegruppen:
- Verband der Getreide-, Mühlen- und Stärkewirtschaft e. V. (VGMS), Berlin
- Kulinaria Deutschland e. V., Verband der Hersteller kulinarischer Lebensmittel, Bonn
- Vereinigung zur Förderung der Milchwissenschaftlichen Forschung an der Technischen Universität München e. V., Freising
Forschungsvorhaben:
IGF-Projekt 20197 N „Entwicklung neuer Konzepte zur Optimierung von Struktur und Sensorik fettreduzierter Lebensmittel durch Proteinfunktionalisierung und molekular-sensorische Methoden“
… ein Projekt der Industriellen Gemeinschaftsforschung (IGF)
Quelle: FEI