Der Versuch der belgischen EU-Ratspräsidentschaft, die Gentechnik-Deregulierungspläne noch in letzter Minute durch eine Einigung der Mitgliedsstaaten einen entscheidenden Schritt weiter voranzutreiben, ist gescheitert.
Das Thema wurde heute in Brüssel kurzfristig wieder von der Tagesordnung gestrichen. Das bedeutet zumindest eine Atempause für die gesamte gentechnikfreie Lebensmittelwirtschaft, die kürzlich das 15-jährige Jubiläum des „Ohne GenTechnik“-Siegels in Berlin mit einer Wirtschaftskonferenz und einem Empfang gewürdigt hatte.
Hissting: Vertagung und gründliche Debatte sind nur vernünftig
„Wir sind sehr froh über diese gute Nachricht eine Woche nach unserem Siegel-Jubiläum“, kommentiert Alexander Hissting, Geschäftsführer des Verbandes Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG), „Die Deregulierungspläne der EU-Kommission sind damit zwar noch längst nicht vom Tisch, aber wir bekommen immerhin eine kleine Atempause für die „Ohne Gentechnik“- und die Bio-Branche. Eine Entscheidung auf Biegen und Brechen auf den letzten Drücker wäre der Sache nicht gerecht geworden. Es ist nur vernünftig, die Debatte nach der Sommerpause in aller Gründlichkeit fortzusetzen und zumindest in Teilen neu aufzurollen. Die Bedenken von „Ohne Gentechnik“ und Bio in Sachen Kennzeichnung, Rückverfolgbarkeit und Koexistenz müssen unbedingt berücksichtigt werden, genauso wie die ungeklärten Fragen zu Patenten und Risiken für Umwelt und Gesundheit.“
Debatte geht nach der Sommerpause 2024 weiter
Die belgische EU-Ratspräsidentschaft hatte versucht, noch kurz vor Schluss ihrer Amtszeit mit einem modifizierten Vorschlag die noch ausstehende Einigung zu den Gentechnik-Plänen der EU-Komission im Agrarministerrat zu erzielen. Das Thema stand für den 26. Juni 2024 auf der Tagesordnung des zuständigen Gremiums in Brüssel, wurde aber im letzten Moment wieder gestrichen.
Am 1. Juli übernimmt das traditionell gentechnikkritische Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft. Das Thema dürfte damit nach der Sommerpause unter etwas anderen Vorzeichen weiter beraten werden, unter stärkerer Berücksichtigung der zahlreichen kritischen Punkte.
15 Jahre „Ohne GenTechnik“-Siegel: Konferenz und Empfang am 20.06.2024 in Berlin
Zum 15-jährigen Jubiläum des „Ohne GenTechnik“-Siegels hatten sich am 20.Juni 2024 über 100 Teilnehmer:innen aus Lebens- und Futtermittelwirtschaft, Politik, Forschung, von Verbänden und Medien in Berlin zur Fachkonferenz VLOG-Forum und einem Abendempfang getroffen. Informiert und diskutiert wurde über Erfolge, Entwicklungen, Herausforderungen und Chancen der „Ohne Gentechnik“-Wirtschaft.
Aigner: Herausragende Erfolgsgeschichte „Ohne GenTechnik“-Siegel
Das „Ohne GenTechnik“-Siegel wurde 2009 von der damaligen Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner (CSU) vorgestellt. Die heutige Präsidentin des Bayerischen Landtages bezeichnete sich in ihrer Video-Botschaft an die Gäste als „Geburtshelferin des Siegels“ und freute sich über dessen „rasante Entwicklung und herausragende Erfolgsgeschichte“.
Auch Florian Faber von der österreichischen ARGE Gentechnik-frei würdigte in seinem Rückblick auf die Geschichte des „Ohne GenTechnik“-Siegels die bemerkenswerte Leistung, in 15 Jahren einen Markt mit über 16.000 gesiegelten Produkten und einem Umsatz von 17,4 Mrd. Euro in Deutschland aufzubauen.
Künast: Gentechnik ist nicht die Antwort
Verbraucher:innen hätten das Recht, zu wissen, was in den Produkten stecke, die sie kaufen, so Renate Künast MdB (Grüne), und bei dieser Transparenz spiele der VLOG eine herausragende Rolle. Die ehemalige Bundeslandwirtschaftsministerin (2001 bis 2005) eröffnete den Abendempfang zum Siegel-Jubiläum mit einem Grußwort.
Darin thematisierte sie nicht erfüllte Versprechungen und negative Auswirkungen von Gentechnik in den vergangenen 20 Jahren in Rohstoff-Ländern wie Brasilien. „Gentechnik ist nicht Antwort auf die Frage, wie wir Ernährung weltweit sichern. Die Frage des Hungers auf der Welt wird nicht mit Gentechnik gelöst.“ Vielmehr müsse die Bewältigung der Klimakrise, der Erhalt der Biodiversität oberste Priorität bekommen, um Landwirtschaft in Zukunft überhaupt möglich zu machen. „Durch die Extremwetterlagen überall auf der Welt ist unser aller Ernährungssicherheit massiv gefährdet.“
Kennzeichnung, Koexistenz, Patente – BMEL will „Ohne Gentechnik“-Märkte schützen
Bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen des VLOG-Forums beharrte Dr. Klaus Berend von der Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit weiterhin auf der Absicht der EU-Kommission, sogenannte „NGT-1-Pflanzen“ klassischen Züchtungen gleichzustellen.
Eva Bell, für Gentechnik zuständige Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), forderte dagegen Transparenz durch Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung: „Den deutschen Kund:innen ist es nicht egal, wie eine Mutation in der Pflanze zustande gekommen ist. Wir fühlen uns in der Pflicht, die Wünsche unserer Bürger:innen ernst zu nehmen und umzusetzen“. Außerdem habe das Ministerium ein ökonomisches und ein Nachhaltigkeitsinteresse, die beiden großen Märkte („Ohne Gentechnik“- und Bio-Markt) zu unterstützen und nicht zu belasten.
Status Quo in Brüssel und Chance für die „Ohne Gentechnik“-Branche
Heike Moldenhauer, Generalsekretärin der European Non-GMO Industry Association (ENGA) hatte zuvor die Gentechnik-Pläne der EU-Kommission und den Stand des politischen Prozesses im Detail vorgestellt und analysiert. „Das Beste, was uns jetzt passieren kann: Dass Ungarn die offenen kritischen Fragen aufgreift und wir zu einer Klärung kommen, die allen Marktbeteiligten gerecht wird“, so ihr Fazit mit Blick auf die bevorstehende Übergabe der EU-Ratspräsidentschaft von Belgien an Ungarn am 1. Juli 2024.
Das EU-Parlament hatte bei der letzten Abstimmung unter der Ratspräsidentschaft Belgiens den Deregulierungsvorschlag der Kommission als Paket angenommen. Allerdings hatte bereits im Februar überraschend eine Mehrheit für einen Änderungsantrag zur durchgehenden Kennzeichnung auch sämtlicher neuer Gentechnik-Pflanzen („NGT“) bis zum Endprodukt und deren Rückverfolgbarkeit gestimmt. Weitere Forderungen etwa zu Koexistenzmaßnahmen und Risikoprüfungen fanden hingegen keine ausreichende Unterstützung im Parlament.
Trilog steht aus – Offener Unternehmens-Brief an Özdemir und Co.
Solange die europäischen Agrarminister:innen keine gemeinsame Position erreicht haben, können die Verhandlungen zwischen EU-Kommission, EU-Parlament und Agrarrat, der sogenannte Trilog, nicht beginnen. Sie sind Voraussetzung für die Verabschiedung eines neuen Gesetzes.
Heike Moldenhauer appellierte an alle Lebensmittelunternehmen, für ihre Interessen einzutreten und die neue Initiative der Unternehmen für Wahlfreiheit zu unterstützen, die ebenfalls beim VLOG-Forum von Bernard Pointner (Geschäftsführer der Molkerei Berchtesgadener Land) und Felix Ahlers (Vorstandvorsitzender der Frosta AG) vorgestellt wurde. In einem Offenen Brief fordern sie Cem Özdemir und seine Amtskolleg:innen in allen andere EU-Staaten auf, sich für klare Regeln auch für neue Gentechnik („NGT“) einzusetzen. Auch die Unternehmen Alb-Gold, Alnatura, Andechser und dm gehören zu den Initiatoren.
In weiteren Vorträgen, Panels und Dialogrunden des VLOG-Forums ging es um Nachweisverfahren und Rückverfolgungssysteme für neue Gentechnik sowie um Marktsituation und Zukunftsperspektiven für das „Ohne GenTechnik“-Siegel.
- Gentechnik-Pläne der EU-Kommission vertagt: Atempause für „Ohne Gentechnik“ und Bi
- 15 Jahre „Ohne GenTechnik“: Unternehmer-Appell für Wahlfreiheit an Politik
- Grußwort von Ilse Aigner beim VLOG .:. Forum 2024
- Videoaufzeichnung VLOG .:. Forum 2024 (auf LinkedIn)
Quelle: VLOG