385 Millionen Pestizidvergiftungen? Ein Schauermärchen ohne Substanz

Veröffentlichung honorarfrei bei Link zu: food-monitor.de

Wissenschaftliches Journal zieht Veröffentlichung wegen methodischer Fehler zurück.

Seit einigen Jahren geistert eine erschreckende Zahl durch zahlreiche Medien, aber auch staatliche Dokumente: 385 Millionen Menschen weltweit erlitten angeblich jedes Jahr Vergiftungen durch Pflanzenschutzmittel. Diese Hochrechnung wurde in den vergangenen Monaten oft sogar unkritisch als fundierter Wert übernommen und hatte sich verselbständigt.

Zurück geht diese Zahl auf eine Veröffentlichung in dem wissenschaftlichen Journal „BMC Public Health“ (peer reviewed) aus Dezember 2020, verfasst von Aktivisten der Pflanzenschutz-kritischen Nichtregierungsorganisation „PAN“. Nach Hinweisen auf grobe methodische Fehler in der Arbeit hat die Redaktion von BMC Public Health die Veröffentlichung nun zurückgezogen. In der „Retraction Note“ (vgl. 1) heißt es: „Der Herausgeber hat kein Vertrauen mehr in die Ergebnisse und die vorgelegten Schlussfolgerungen“. So war einer der Mängel der Studie, dass die Autoren die reine Exposition mit einer potenziell gefährlichen Substanz schon als Vergiftungsfall zählten und damit die Zahlen aufblähten.

Wie so häufig findet die nüchterne Korrektur nicht den gleichen Widerhall wie die schrille Falschmeldung. „Die Lüge fliegt, und die Wahrheit humpelt ihr hinterher“, schrieb der irische Autor Jonathan Swift schon vor 300 Jahren. Gerade in der Diskussion um die Landwirtschaft begegnet man immer wieder solchen Zahlenmärchen. Da verbraucht angeblich 1 Kilogramm Rindfleisch 15 000 Liter Wasser – aber nur, wenn man den Regen, der auf die Weiden fällt, großzügig mit einrechnet (vgl. 2). Oder es sterben angeblich jährlich 200 000 Menschen an Pestizidvergiftungen – aber nur, wenn man Zahlen aus den 1970er Jahren aus Sri Lanka auf die Weltbevölkerung hochrechnet (vgl. 3).

In diese Reihe gesellt sich längst die Schreckenszahl von den jährlich 385 Millionen Vergiftungen mit Pflanzenschutzmitteln. Übernommen (und nicht überprüft oder korrigiert) haben die Zahl neben vielen Medien etwa die Europäische Kommission (vgl. 4), das UN Environment Programme (vgl. 5), oder die WHO (vgl. 6). Und auch in einem aktuellen Dokument des Deutschen Bundestags ist die Zahl enthalten. Wenn am 13. November 2024 der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu einer öffentlichen Anhörung über Exporte von Pflanzenschutzmitteln einlädt, heißt es in der Begründung: „Von etwa 860 Millionen Beschäftigten in der Landwirtschaft weltweit werden etwa 44 Prozent jedes Jahr beim Einsatz von chemisch-synthetischen Pflanzenschutzmitteln teils erheblich gesundheitlich geschädigt“ (vgl. 7). Korrekt zitiert wurde immerhin. Wer auf den Link zur Quelle geht, findet mit einem Mausklick heraus, dass die Veröffentlichung, aus der diese Zahl stammt, aufgrund ihrer methodischen Mängel inzwischen zurückgezogen wurde.

Quellen:

(1) Retraction Note: The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review | BMC Public Health | Full Text

(2) https://www.agrarheute.com/tier/rind/wieviel-wasser-verbraucht-fleisch-wirklich-587719

(3) https://www.salonkolumnisten.com/angstgeschaefte-foodwatch-und-die-fakten/

(4) Factsheet_Reducing the risk_DE.pdf.pdf

(5) Environmental and Health Impacts of Pesticides and Fertilizers and Ways of Minimizing Them | UNEP – UN Environment Programme

(6) who_2024_07_30_suicide_preventing_pesticides.pdf

(7) Anhörung

 

Der Industrieverband Agrar e. V. (IVA) vertritt die Interessen der Hersteller von Betriebsmitteln für einen nachhaltigen Pflanzenbau in Deutschland. Die 47 Mitgliedsunternehmen engagieren sich in den Bereichen Pflanzenschutz, Pflanzenernährung, Pflanzenzüchtung, Biostimulanzien und Schädlingsbekämpfung. Die vom IVA vertretene Branche bietet innovative Produkte für eine moderne Landwirtschaft, professionellen Gartenbau und verantwortungsvolle Privatanwendung.

iva.de