Gewagt: Öffentliche Waagen zur Gewichtskontrolle in der Türkei

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In einer neuen Maßnahme zur Bekämpfung von Übergewicht greift die Türkei zu ungewöhnlichen Methoden. Ernährungswissenschaftler Uwe Knop wirft einen kritischen Blick auf diese Praxis und hinterfragt die Effektivität sowie die wissenschaftliche Grundlage.

Mit KI erstellt

Was läuft gerade in der Türkei in Sachen „Gewichtskontrolle“`?

Seit dem 10. Mai 2025 haben die Gesundheitsbehörden in der Türkei damit begonnen, Menschen auf öffentlichen Plätzen und Straßen unangekündigt zu wiegen. Dazu tragen die Gewichtskontrolleure extra eine Waage bei sich. Ziel ist es, den Body-Mass-Index (BMI) zu erfassen. Wer bei der Wiegekonrolle einen BMI über 25 hat, wird in Gesundheitszentren geschickt – wo diese vermeintlich übergewichtigen Menschen dann entsprechende Abnehmberatung bekommen sollen. Stellen Sie sich mal vor, auf dem Frankfurter Opernplatz käme die „deutsche Gewichtskontrollpolizei“ und bittet sie eindringlich, sich auf die mitgebrachte Waage zu stellen – das klingt nicht nur absurd, sondern hat einen „Hauch von 1984“!

Ist denn ein BMI ab 25 wirklich problematisch?

Nein, dazu liegen keine wissenschaftlichen Belege vor. Auch wenn ein BMI ab 25-29.9 den Bereich des „Übergewichts“ markiert, so ist der Begriff nicht mehr als Stigmatisierung. Der BMI hat zahlreiche Schwächen und gehört schon längts eingemottet – mit diesem Wert kann z.B. keine Angabe gemachtz werden, wieviel Muskel – und Fettmasse ein Mensch hat. Darüber hinaus deuten zahlreiche Beobachtungsstudien darauf hin, dass Personen mit einem BMI von 25-29,9 die längste Lebensdauer aufweisen – verglichen mit Personen im „normalen“ Gewichtsbereich (18,5-24,9). Dieses Phänomen wird manchmal als „Übergewichtsparadox“ bezeichnet. Es gibt sogar noch etwas vermeintlich paradoxes in der Gewichtsklasse darüber: das Adipositasparadoxon.

as hat es mit dem „Adipositasparadoxon“ auf sich?

Den Begriff „Adipositasparadoxon“ gibt es schon sehr lange. Er kommt daher, dass in den letzten zehn bis 20 Jahren mehrere große Beobachtungsstudien immer wieder aufs Neue bestätigt haben: Bei vielen Erkrankungen, zum Beispiel Diabetes und Krebs, leben Dicke länger als Schlanke. Warum das so ist, darüber wird noch immer wild und kontrovers spekuliert – und viele „Hardliner“ wollen es auch nicht wahrhaben, sodass diese Paradoxon auch viele Kritiker hat, die Zweifel an den Daten hegen und andere Auswertungsmethoden als möglichen Gegenbeweis heranziehen. Wer auch immer Recht haben mag – Fakt ist, die „Pro-Paradoxon-Phalanx“ erhielt in diesem Jahr (2024) erneut glasklare Unterstützung eines Autorenteams, deren Publikation im renommierten Medizinfachjournal nature erschien.

Welche neuen Ergebnisse lieferten Wissenschaftler zum Adipositasparadoxon?

Die Studienergebnisse zeigen, dass kein Unterschied in puncto Gesamtsterblichkeit bei gesunden Nicht-Fettleibigen und gesunden Fettleibigen beobachtet werden konnte. Nicht-Fettleibige mit Stoffwechselstörungen hingegen hatten das höchste Risiko insgesamt, früh zu versterben.

Ein weiteres, sehr interessantes Fazit lautet daher: „Insbesondere stellten wir fest, dass Adipositas das Risiko der Gesamtmortalität bei Menschen mit Stoffwechselstörungen verringerte .“ Das heißt wer einen krankhaft veränderten Stoffwechsel hat und nicht adipös ist, der stirbt offenbar früher als stoffwechsel-gestörte Fettleibige. Woher dieses „Fettleibigkeitsparadoxon“ kommt, ist nicht gesichert zu erklären. Nichtsdestotrotz konstatiert das Autorenteam unmissverständlich:

„Unser Ergebnis unterstützt die Existenz des „Fettleibigkeitsparadoxons“, über das bereits in mehreren Studien berichtet wurde.“ Die Wissenschaftler weisen insbesondere aufgrund dieser erneut polarisierenden Ergebnisse eindringlich auf folgendes hin: „Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine Gewichtszunahme gefördert werden sollte, um das Risiko der Gesamtsterblichkeit zu senken.“ Die Wissenschaftler warnen also klar davor, dass aus dieser Korrelation keine Kausalität abgeleitet werden kann. Diese Grundsatz-Warnung sollten sich alle Ernährungswissenschaftler an den Kühlschrank pinnen – denn die „Umdeutung“ von Korrelationen in Kausalitäten ist der Kardinalfehler beim Thema gesunde Ernährung. Die Ernährungswissenschaften sind in einer sehr bemitleidenswerten Lage, weil sie keine Kausalitäten (also keine Ursache-Wirkungs-Beziehungen, keine Beweise) liefern können, sondern nur Korrelationen, also banale statistische Zusammenhänge. Und diese lassen maximal Hypothesen und Vermutungen zu. Daher gleichen Ernährungswissenschaften dem Lesen einer Glaskugel .

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Dieser Beitrag erschien im Original zuerst auf FOCUS online-Experte

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Uwe Knop (*72) ist evidenzfokussierter Ernährungswissenschaftler (Dipl.oec.troph./JLU Gießen), Publizist, Referent und Buchautor (aktuell „ENDLICH RICHTIG ESSEN“ (Aug, 2024)). Seit mehr als 14 Jahren bildet die objektiv-faktenbasierte Analyse tausender aktueller Ernährungsstudien den Kern seiner unabhängigen Aufklärungsarbeit. Knop hat den mündigen Essbürger mit eigener Meinung zum Ziel, der umfassend informiert selbst und bewusst entscheidet, worauf er bei der wichtigsten Hauptsache der Welt – genussvolles Essen zur Lebenserhaltung – vertraut.

Kontakt: Uwe Knop auf LI