Die Suche nach ethisch vertretbarem Fleischkonsum treibt Wissenschaft und Industrie zu innovativen Lösungen. Ernährungswissenschaftler Uwe Knop beleuchtet, wie Laborfleisch dabei helfen könnte, unsere Lust auf Fleisch mit dem Bedürfnis nach Nachhaltigkeit und Tierwohl in Einklang zu bringen.
Weltweit wird intensiv geforscht, um künftig Laborfleisch als “Echtfleischersatz” im Supermarkt anzubieten – woher kommt dieser Trend?
Das recht junge Forschungsfeld rund um Kultur-, Labor- und Kunstfleisch oder auch Fleischersatz ist ein global-agiler Kosmos, in dem sehr viel Geld, Engagement und Pioniergeist steckt. Der Grund ist einfach erklärt: In vielen “übersättigten”, hoch entwickelten Gesellschaften und Staaten – wie der unseren – etabliert sich derzeit sukzessive ein neuer kultureller Zeitgeist, besonders bei den nachfolgenden Generationen: Die (jungen) Menschen achten immer mehr auf Tierwohl respektive wollen idealerweise “tierleidfrei” konsumieren. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein für und der Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit und Umweltschutz. Das erzeugt bei den denjenigen, die gerne noch immer Fleisch essen, einen inneren Zwiespalt, eine “ethische” Spannung: Der intuitiven Lust auf Steak & Co. steht der Wunsch nach ethisch korrektem Handeln entgegen, de facto „Fleischgenuss vs Gewissen“. Und diejenigen mit “dominanten schlechten Gewissen bei der Fleischeslust” essen dann einfach weniger davon – Sie werden zu Flexitariern, die seltener aber hochwertigeres Fleisch essen.
Die neue Kulturfleisch-Industrie sieht genau hier ihre große ökonomische Chance: Aus tierleidfreien Rohstoffen “Kunstfleisch” herzustellen, das beide Ebenen zufriedenstellt, also sowohl Intuition als auch Ethik befriedigt – oder anders gesagt: Die Lust auf Fleisch-Essen kann gestillt werden und das Gewissen bleibt still, denn alles is(s)t ethisch korrekt. Ein aktuelles “Vorzeigebeispiel” dieser Forschung kommt aus Tübingen.
Was hat die neue Studie der Universität Tübingen ergeben?
Die Forscher haben für ihre neue Studie in einem Bioreaktor-System gleichzeitig Proteine und Vitamine für “nachhaltige vegetarische und vegane Produkte ohne nennenswerten Flächenverbrauch” hergestellt und sehen das als “einen großen Erfolg auf diesem Weg.“ Dabei kamen keine Ausgangsstoffe aus Tieren zum Einsatz. Sondern die Wissenschaftler verwendeten dazu Kohlendioxid, Wasserstoff und Sauerstoff sowie Strom aus erneuerbaren Quellen – denn mehr brauchen ein Bakterium und die Bäckerhefe kaum, um in diesem ausgeklügelten Bioreaktor-System im Labor Proteine für die menschliche Ernährung und das lebenswichtige Vitamin B9 herzustellen. Das neue Proteinprodukt mit Vitamin B9, der Folsäure, kann als vegane Grundlage für Fleischersatz dienen, “mit dem langfristig eine wachsende Weltbevölkerung klimaverträglich ernährt werden könnte.” Bei diesem Produkt handelt es sich jedoch noch nicht um ein fertiges Lebensmittel, aber die Nahrungsmittelindustrie kann es dazu weiterentwickeln – dazu muss das kleine Bioreaktor-System aus dem Labor in Anlagen eines viel größeren Maßstabs umgesetzt werden. Dabei müssen aber sowohl noch Untersuchungen zur Lebensmittelsicherheit folgen als auch technische und wirtschaftliche Analysen zum Absatzmarkt solcher Produkte. Die Tübinger haben schon viel richtig gemacht, aber letztlich entscheiden 5 Kernfragen über “Wohl oder Wehe” dieser neuen Fleischforschung,.
Welche 5 Kernfragen entscheiden über Erfolg oder Misserfolg von Kulturfleisch?
Erfolg werden die Start-Ups und Firmen haben, die folgende 5 Fragen mit JA beantworten können:
- Erfolgt die Herstellung von Kulturfleisch ohne tierische Rohstoffe, für die Tiere sterben müssen?
- Schmeckt das Laborfleisch mindestens so gut oder sogar besser als “echtes Tierfleisch” und ist es genauso verträglich?
- Sind die Ersatzfleischlebensmittel ernährungsphysiologisch hochwertig und vergleichbar echtem Fleisch?
- Ist gewährleistet, dass die neuen Kulturfleisch-Produkte keine Risiken für Gesundheit und Umwelt darstellen?
- Ist der Preis für die breite Bevölkerung erschwinglich, kann sich das neue Kulturfleisch prinzipiell jeder leisten?
Besonders alltags- und marktrelevant für die mittel- bis langfristige Akzeptanz in der Bevölkerung sind die Punkte 2 und 5 – denn wenn das Neofleisch nicht mundet, nicht schmeckt, nicht gut verträglich ist oder viel zu teuer sein wird, dann wird es sich nicht als kulturell erwünschtes neues Lebensmittel etablieren können.
Brauchen wir denn überhaupt Fleisch – ob echt oder aus dem Labor – für eine ausgewogene Ernährung?
Fleisch ist einerseits, rein ernährungsphysiologisch betrachtet, eines der hochwertigsten Lebensmittel überhaupt, besonders in punkto Proteine. Daher essen viele es intuitiv so gerne, weil unser Körper, (unser Bauchhirn, das enterische Nervernsystem ENS) diese Nahrungsquelle “hoch zu schätzen” weiß. Andererseits hingegen ist unsere heutige Auswahl an guten und sicheren Nahrungsmitteln oder Mahlzeiten so reichhaltig und abwechslungsreich, dass wir grundsätzlich kein Fleisch benötigen, um uns ausgewogenen zu ernähren – es gibt genug Alternativen, auch für Vegetarier. Die Frage ist und bleibt: Wie bringe ich meine Intuition und Ethik in harmonischen inneren Einklang, sodass es nicht nur meinem Körper richtig gut schmeckt, sondern auch mein Verstand und Gewissen “zufrieden mit essen”. Nur so wird man langfristig seinen persönlich passenden Weg zu ganzheitlich glücklichem Essverhalten finden.
Dieser Beitrag erschien im Original zuerst auf FOCUS online-Experte
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Uwe Knop (*72) ist evidenzfokussierter Ernährungswissenschaftler (Dipl.oec.troph./JLU Gießen), Publizist, Referent und Buchautor (aktuell „ENDLICH RICHTIG ESSEN“ (Aug- 2024)). Seit mehr als 14 Jahren bildet die objektiv-faktenbasierte Analyse tausender aktueller Ernährungsstudien den Kern seiner unabhängigen Aufklärungsarbeit. Knop hat den mündigen Essbürger mit eigener Meinung zum Ziel, der umfassend informiert selbst und bewusst entscheidet, worauf er bei der wichtigsten Hauptsache der Welt – genussvolles Essen zur Lebenserhaltung – vertraut. Kontakt: presse@echte-esser.de