Die Debatte um den Konsum von Milch und ihr Einfluss auf unsere Gesundheit wird erneut angefacht.
Ernährungswissenschaftler Uwe Knop wirft einen kritischen Blick auf die jüngsten Forschungsergebnisse.
Was die neue Großstudie zu Milch beobachtet?
Die neue Großstudie hat die aktuelle Datenlage zu Milchkonsum und dem Zusammenhang zu „verschiedenen gesundheitlichen Folgen“, also Krankheiten, analysiert: Von 281 identifizierten Zusammenhängen brachten 37,7 % den Konsum von Milchprodukten mit einem geringeren Risiko in Verbindung, während 48,0 % keinen Zusammenhang mit dem Krankheitsrisiko zeigten. Bei 10,0 % der Zusammenhänge ergaben sich keine eindeutigen Ergebnisse und 4,3 % wiesen auf ein erhöhtes Risiko für negative gesundheitliche Folgen hin. Es waren also alle vier möglichen Zusammenhänge dabei! Die Forscher ziehen folgendes Fazit: “ Insgesamt deuten die Erkenntnisse darauf hin, dass der Konsum von Milchprodukten nicht mit einem erhöhten Risiko für nicht übertragbare Krankheiten oder Sterblichkeit verbunden ist.“
Das alles deutet erneut auf die x-te Bestätigung des ernährungswissenschaftlichen Universalcredos hin: „Nichts Genaues weiß man nicht!“?
Warum bestätigt auch diese Studie das ernährungswissenschaftliche Universalcredo „Nichts Genaues weiß man nicht!“?
Das Kernproblem solcher Studien ist die generell massiv limitierte Aussagekraft. Denn das Ziel dieser sogenannten „Beobachtungsstudien“ ist es, ausschließlich einen banalen statistischen Zusammenhang (Korrelation) zu untersuchen und diesen zu veröffentlichen – im aktuellen Fall zwischen „Milch, Krankheiten und Tod“. Doch solche Assoziationen sind hoch spekulativ, sie sagen nicht viel aus. Denn es gilt der klare wissenschaftliche Grundsatz: Aus Korrelationen lassen sich keine Beweise (Kausalitäten) ableiten – aber genau die braucht man, um klare Aussagen und Empfehlungen zu geben, doch die gibt es nicht. Daher gleicht die mediale Ernährungs-Berichterstattung dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“:
Jeden Tag wachen wir auf und die Medien sind schon wieder voll mit Beiträgen zu den „neusten Studien zu gesunder Ernährung“ – die allesamt, wie immer, ausschließlich auf Beobachtungsstudien basieren – und damit nur weiteres Öl ins Feuer der Spekulationen, Hypothesen und Vermutungen gießen.
Beispielsweise „grüßten die Medienmurmeltiere“ jüngst erst mit Berichten zu „Milch schützt vor Darmkrebs“. Kurz danach machte „Fleischessen dumm und dement“. und nur ein paar Tage später war es „Joghurt, der das Risiko für Darmkrebs senkt„: Es ist immer das gleiche Schema. Diese Studien bringen uns alle aber keinen Schritt weiter – selbst wenn noch eine Million davon veröffentlicht wird und davon morgen wieder in den News berichtet wird. Das System der Beobachtungsstudien im Bereich Ernährung hat ausgedient. Es kann abgeschafft werden. Wir haben genug davon publiziert – und zwar inzwischen soviel, dass für alle nur erdenklichen „Besser-Esser-Hypes“ die passenden Korrelationen vorliegen. Ernährungswissenschaft ist und bleibt Forschung auf Glaskugelniveau, das hat jüngst auch eine wunderbare Grundlagenstudie zur Willkür von Beobachtungsstudien eindrucksvoll untermauert.
Was hat die Grundlagenstudie zur Willkür von Beobachtungsstudien gezeigt?
Kanadische Forscher haben im Journal of Clinical Epidemiology analysiert, welche statistischen Berechnungen bei Beobachtungsstudien angewandt werden. Denn die zugrunde liegenden Datensätze, die auf den unüberprüfbaren Eigenangaben der Teilnehmer basieren lassen sich auf zahlreiche, ganz unterschiedliche Arten auswerten – beim Fleisch beispielsweise konnten die Wissenschaftler 70 verschiedene Berechnungsmethoden identifizieren, obwohl alle die gleiche Fragestellung untersuchten.Dabei herrscht große Uneinigkeit, welche Methode die beste ist. Hinzu kommt: In diesen Studien gibt es oft mindestens 50 Faktoren mit Einfluss auf die Sterblichkeit. Und je nachdem, welche und wie viele dieser Faktoren in einer Beobachtungsstudie berücksichtigt werden, wie stark die Autoren diese Faktoren bewerten und welche Arten statistischer Berechnung sie auswählen ergibt das etwa zehn Billiarden (!) verschiedene und grundsätzlich nachvollziehbare Analysemöglichkeiten. So waren auch die kanadischen Ergebnisse total widersprüchlich: Einmal war Fleischkonsum mit einem 50 Prozent niedrigeren Sterberisiko verknüpft, dann wiederum mit einem +70 Prozent erhöhten. Viele andere Ergebnisse lagen irgendwo dazwischen. Aus den Daten konnte man also herausarbeiten, was man wollte. Alles war möglich und machbar. Unabhängig davon: Alle Ergebnisse sind gleichermaßen nur Korrelationen. Merken Sie was? Das alles erinnert doch sehr an die aktuelle Milchstudie!
Soll ich jetzt weiterhin Milch trinken und wenn ja wieviel – oder besser keine Milch mehr?
Aus wissenschaftlicher Sicht lautet die Antwort: Das weiß niemand. Hören Sie daher auf „jemand anderen“ – und zwar: Vertrauen Sie auf Ihren guten Geschmack und Ihr Körpergefühl, also was sie gut vertragen und verdauen können. Hören Sie auf Ihr Bauchhirn – denn das gibt es wirklich, es hat sogar einen eigenen medizinischen Fachbegriff: enterisches Nervensystem (ENS). Grundsätzlich gilt: Der Verzehr aller Lebensmittel ist stets individuell. Und beim Milch(produkte)verzehr kommt es nicht auf die wilden „Hypothesen zur Gesundheit“ an, sondern auf ganze andere, viel wichtigere persönliche Parameter -beispielsweise auf die eigene Ethik: Denn – und das wird viele überraschen – selbst die zunehmende Produktion von Bio-Milch führt dazu, dass immer mehr Bio-Kälber geboren werden. Aber: Für den (im wahren Sinn) bio-logischen Grund der vielen Bio-Milch, die Bio-Kälber, existiert so gut wie kein Markt. Die Folge: „Die Tiere werden größtenteils an konventionell arbeitende Betriebe verkauft.
Für die Tiere bedeutet dies nicht nur lange Transporte, sie verlassen in der Regel auch die regionale Bio-Wertschöpfungskette, da sie meist an konventionell arbeitende Mastbetriebe verkauft werden. „ Diese Kälber erfahren weder unter ethischen noch ökonomischen Aspekten eine Wertschätzung “, bedauert die Uni Hohenheim. Und das ist wahrlich paradox bis schwer (ent)täuschend: Die Menschen kaufen einerseits mit „gutem Gewissen“ Bio-Milch – und dann andererseits sowas: Gerade die Jungtiere landen in der Massentierhaltung. Wenn die tierwohl-sensiblen Bio-Produkte-Käufer das wüssten, würden Sie wohl auch bei Bio-Milch deutlich differenzierter einkaufen.
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Dieser Beitrag erschien im Original zuerst auf FOCUS online-Experte
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Uwe Knop (*72) ist evidenzfokussierter Ernährungswissenschaftler (Dipl.oec.troph./JLU Gießen), Publizist, Referent und Buchautor (aktuell „ENDLICH RICHTIG ESSEN“ (Aug, 2024)). Seit mehr als 14 Jahren bildet die objektiv-faktenbasierte Analyse tausender aktueller Ernährungsstudien den Kern seiner unabhängigen Aufklärungsarbeit. Knop hat den mündigen Essbürger mit eigener Meinung zum Ziel, der umfassend informiert selbst und bewusst entscheidet, worauf er bei der wichtigsten Hauptsache der Welt – genussvolles Essen zur Lebenserhaltung – vertraut.
Kontakt: Uwe Knop auf LI