„Pflanze gegen den Hunger“: So nennen die Landbewohner in Südäthiopien die Ensete. In Europa ist die Staude nur aus Botanischen Gärten bekannt und wird als „Zierbanane“ oder „Falsche Banane“ bezeichnet.
Aus dem Mark der riesigen Blattscheiden und Knollen produzieren die Kleinbauern Südäthiopiens das fermentierte Superfood „Kotcho“. Bislang ist das Potenzial der Pflanze im Klimawandel nicht erkannt worden: Die unterschätzte Ensete könnte laut Wissenschaftlern der Royal Botanic Gardens in London mehr als 100 Millionen Menschen das Überleben sichern.
Morgens gibt es einen Pfannkuchen. Das Mittagessen fällt aus. „Wir müssen mit unseren Vorräten haushalten“, sagt Worke Zeru, die Hausfrau. Abends gibt es zwei flache Brötchen pro Person. Dazu eine Handvoll gekochten Kohl: So sah der Speiseplan der Familie gestern aus und heute wieder. Morgen wird es nicht anders sein. Hauptsächlich ernährt sich die Familie von Worke Zeru wie Millionen Menschen in Südäthiopien von einem Nahrungsmittel, von dem der Rest der Welt so gut wie nie gehört hat: „Nur Gott weiss, wie wir ohne Kotcho überleben würden“, sagt Worke Zeru.
Die 43-Jährige hockt in ihrer Rundhütte, von dem kleinen Feuer am Boden steigt beissender Rauch auf. Auf einem Holzbrett knetet sie einen Teig. Das ist „Kotcho“, hergestellt aus einer der Ensete-Pflanzen, deren Blätter hinter der Hütte in sattem Grün strotzen und sich erstaunliche sieben bis neun Meter hoch strecken. Überall in Worke Zerus Heimatdistrikt Hambela Wamena sieht man schiefe Hütten in der rostbraunen Erde, umstanden von den üppig in den Himmel schiessenden Ensete ventricosum. Der Laie verwechselt sie leicht mit einer Bananenstaude, weshalb sie in Europa auch als „Zierbanane“ oder „Abessinische Banane“ bezeichnet wird.
Superfood im Klimawandel
Doch in den „Royal Botanic Gardens“ in London ist das Riesenkraut mehr als schmückendes Beiwerk. Wissenschaftler der berühmten Einrichtung und ihre Kollegen von der Universität Hawassa in Äthiopien haben in einer Studie das Potenzial der Pflanze für die Ernährungssicherheit in Afrika untersucht. Demnach könnte die Staude mehr als 100 Millionen Menschen ernähren, gerade im Klimawandel. Grosse Teile Afrikas sehen sich mit erratischen Regenfällen konfrontiert, die Ensete ist im Vergleich zu anderen Kohlenhydrate-Lieferanten aber dürreresistent.
Die Ensete ist weder Strauch noch Baum. Sie hat keinen holzigen Stamm, trotz ihrer enormen Höhe. Ihre Stabilität ziehen die Stauden aus ihren Blattscheiden, die eng aneinander liegen und einen Pseudostamm bilden – und heute die Überlebensgrundlage von rund 24 Millionen Menschen in Südäthiopien.
Aus der Wurzelknolle und den Blattscheiden das nahrhafte „Kotcho“ (gesprochen „Kotscho“) zu gewinnen, ist eine anstrengende Arbeit. Worke Zeru nutzt dafür die frühen Morgenstunden, wenn die Temperaturen noch angenehm sind. Mit dem Haumesser schlägt sie die Blätter in zwei Metern Höhe ab. Dann legt sie die einzelnen Blattscheiden und mit Hilfe der Machete auch die Wurzelknolle frei. Zunächst befestigt die Bäuerin die einzelnen Blattscheiden auf einem schräg stehenden Brett. Mit einem Holzwerkzeug schabt sie das kohlenhydratreiche Pflanzengewebe mit rhythmischen Bewegungen ab. Bald perlt Schweiss auf ihrem Gesicht. Auf den ausgebreiteten Ensete-Blättern auf dem Boden liegt nun das wertvolle Gut: „Kotcho“, das stärkereiche Mark der „falschen Banane“.
Fermentation ist entscheidend
Der Haufen mit dem wertvollen Mark am Boden wird immer grösser. Tochter und Schwiegertochter haben ein Stück weiter im Garten bereits eine kleine Grube vorbereitet und sie mit Enseteblättern ausgeschlagen. Das Mark wird in die Grube gelegt und mit weiteren Blättern abgedeckt. In dieser Grube darf die Masse reifen, mit mikrobiologischer Hilfe: Eine niederländische Studie fand heraus, dass bei der Fermentation des Marks bis zu 29 verschiedene kultivierbare Mikroorganismen beteiligt sind, darunter 12 Hefearten und 17 Milchsäure- und andere Bakterienspezies. Sie schliessen die Nährstoffe auf, sorgen für Haltbarkeit und Geschmack. Nach 20 bis 30 Tagen Fermentation kann Worke Zeru die Masse aus der Grube holen. Überschüssige Flüssigkeit wird ausgepresst, dann kann der Pflanzenbrei zu Pfannkuchen und Brot gebacken werden.
Die Produkte schmecken ähnlich wie Fladen aus Getreide, aber einen Hauch säuerlich. Der Ensete-Brei ist reich an Kohlenhydraten, nur über dieses Lebensmittel kann Worke Zerus Familie den täglichen Kalorienbedarf decken. Durch die Fermentation entwickelt die Masse probiotische Superfood-Eigenschaften, sie fördert eine gesunde Darmflora und unterstützt die Verdauung. Aber wichtig für die Menschen in Südäthiopien ist das Lebensmittel vor allem, weil es vor schlimmem Hunger bewahrt. Es kann lange gelagert werden, ohne zu verderben, was es zu einer verlässlichen Nahrungsquelle in Zeiten von Nahrungsmittelknappheit macht – und die beträgt für die meisten Familien rund die Hälfte des Jahres. Wichtige Lebensmittel wie Mais, Gerste, Bohnen oder Kichererbsen werden ab Oktober geerntet, die schmalen Ernten reichen nur für ein paar Monate. Umso wichtiger wird „Kotcho“, wenn die sonstigen Vorräte aufgebraucht sind.
Menschen für Menschen versucht für die Bevölkerung in Hambela Wamena Nahrungsmittelsicherheit herzustellen. Neben der Viehwirtschaft und dem Getreidebau fördert die Schweizer Stiftung auch die Kultivierung der Ensete-Stauden mit Schulungen und Pflänzlingen. 500 Familien bekommen Schulungen und je 300 Sämlinge.
Dass die Pflanze bislang nicht überall in Subsahara-Afrika als wertvoller Beitrag im Kampf gegen Nahrungsmittel-Unsicherheit erkannt worden ist, hat für die Studie der Royal Botanic Gardens mehrere Gründe. Der Anbau erfordert spezielles Wissen, das bislang nur in Südäthiopien vorhanden ist. Auch gibt es noch zu wenig Erfahrungen, welche Unterarten am besten mit verschiedenen Klimazonen zurechtkommen. Es bräuchte politischen Einsatz, um Forschungsarbeiten und die Einführung und Verbreitung der Pflanze jenseits von Äthiopien voranzutreiben.
Ergänzung durch Proteine
„Kotcho“ hat als fermentiertes Lebensmittel zwar probiotische Wirkungen, aber wie andere Kohlenhydrat-Lieferanten ist es arm an Proteinen. Wohl deshalb wirken die Kinder in Hambela Wamena oft zu klein für ihr Alter: Eine Ergänzung durch regelmässig eingenommene proteinreiche Lebensmittel wäre wichtig, um eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Aber Hülsenfrüchte sind teuer auf den lokalen Märkten. „Um die Versorgung mit Proteinen zu verbessern, unterstützt Menschen für Menschen den Anbau verschiedenen Bohnensorten“, erklärt Getachew Zewdu, Landesrepräsentant der Schweizer Stiftung in Äthiopien. „Auch fehlt es oft an Wissen über gesunde Ernährung. In unseren landwirtschaftlichen Schulungen unterrichten wir die Kleinbauern auch darüber, wie unter lokalen Verhältnissen eine ausgewogene Kost aussehen kann.“
Worke ist mit ihren 43 Jahren bereits Grossmutter, sie hat mit 16 geheiratet, wie viele arme Mädchen in Hambela Wamena. Wenn sie bäckt, tapsen Enkelin Anany und Enkel Soressa, beide drei Jahre alt, um das offene Feuer herum, maunzen ungeduldig, bis die Fladen fertig sind. Mit spitzen Fingern holt Worke sie vom Feuer, bläst darauf, gibt sie den Kindern. Das Quengeln verstummt augenblicklich, die Kinder essen Pfannkucen aus Ensete-Mark, ihr Nahrungsmittel gegen den Hunger.
Menschen für Menschen setzt sich gegen Armut und Hunger ein. Die Stiftung wurde von dem Schauspieler Karlheinz Böhm (1928 – 2014) gegründet. Im Geiste des Gründers schafft das Schweizer Hilfswerk Lebensperspektiven für die ärmsten Familien in Äthiopien. Ziel der Arbeit ist es, dass sie in ihrer Heimat menschenwürdig leben können. Schwerpunkte der einzelnen Projekte sind Frauenförderung, Berufsbildung, Mikrokredite, Kinderhilfe, Familienplanung und landwirtschaftliche Entwicklung. Die Komponenten werden nach den lokalen Bedürfnissen kombiniert und mit sorgfältig ausgewählten einheimischen Partnern umgesetzt.
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