Haben die Nazis Nudging „erfunden“? Und was ist das „Stupsen“ überhaupt?

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Schubsen ohne zu Stoßen: Die subtile Macht des Nudgings in der Ernährung. Wie beeinflusst ein sanfter Stupser unsere Essgewohnheiten? Ernährungswissenschaftler Uwe Knop erklärt das Phänomen Nudging.

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Was genau ist Nudging?

Stellen Sie sich vor, Sie sollen etwas „Gutes“ tun, aber jemand zwingt Sie nicht dazu. Stattdessen wird Ihnen sanft ein „Stupser“ gegeben, der Ihr Verhalten in die richtige, in die gewollte Richtung lenkt. Genau das ist Nudging (vom englischen to nudge = stupfen). Es ist eine Methode, um Entscheidungen von Menschen so zu beeinflussen, dass sie sich freiwillig für eine bestimmte Option entscheiden – meistens eine, die ihnen selbst oder der Allgemeinheit nützt. Der Witz dabei: Die Auswahlfreiheit bleibt erhalten. Man ändert einfach die Umgebung, die „Architektur der Entscheidung“.

Ein Beispiel: Die Mensa platziert den „gesunden Salatteller mit Vollkornbrötchen“ direkt auf Augenhöhe, schön angenehm anzusehen und ansprechend beleuchtet, auf dem Weg zur Kasse – und das ungewollte, „fettig-fleischige“ Jägerschnitzel mit Pommes in eine unauffällige unscheinbare Ecke weiter weg – diesen Teller zu holen, das ist mehr Aufwand und erscheint optisch nicht so attraktiv und erstrebenswert. Klar, Sie könnten noch immer das Jägerschnitzel-Pommes nehmen, aber ist das den Aufwand wert, eine Extrarunde dorthin zu drehen? Nudging basiert auf der Erkenntnis, dass Menschen oft nicht rational handeln, sondern den einfachen Weg wählen.

Ist Nudging eine empfehlenswerte Methode, Menschen zu lenken und zu leiten? Worauf muss ich achten, um nicht reingelegt zu werden?

Aus neutraler Sicht: Ja, es kann sehr empfehlenswert sein, da es die Wahlfreiheit respektiert und trotzdem zu vermeintlich „besseren“ Entscheidungen führt. Es ist wie ein heimlicher Helfer, der uns vor unseren eigenen irrationalen Entscheidungen bewahrt, ohne uns vordergründig zu bevormunden. Aber Achtung: Wenn der „Stupser“ (Nudge) dazu dient, Menschen in eine Richtung zu lenken, die nur dem Lenker nützt und nicht dem Gestupften, ist es eher eine subtile Manipulation. Sie sollten also immer kritisch prüfen und darauf achten, wer der Entscheidungsmacher ist und ob er Ihr bestes Interesse im Sinn hat – oder nur seine eigene Kasse füllen will. Im Grunde ist Nudging ein Werkzeug – und wenn, dann ist der Zimmermann das Problem, jedoch nicht der Hammer!

Wer hat Nudging „erfunden“?

Das Konzept des „Nudging“ in seiner heutigen Form wurde von den US-Wissenschaftlern Richard Thaler und Cass Sunstein populär gemacht (Thaler bekam dafür sogar den Nobelpreis). Sie prägten den Begriff in ihrem Buch von 2008.

Jedoch stimmt das nicht so ganz: Denn wenn wir uns die Broschüre „Gesund durch richtige Ernährung“ der deutschen Hitler-Jugend anschauen, dann sehen wir, dass das Prinzip schon viel früher, also bei den Nazis, angewandt wurde. Denn in dieser Jugendbroschüre heißt es: „Was wir auf diesem Gebiet von dir fordern, soll nicht durch Befehle erreicht werden, sondern durch einen Appell an dein Gewissen und an deine Einsicht.“. Und das ist im Kern genau das, was Nudging heute ist: Beeinflussung ohne direkten Zwang.

Fazit: Der Name ist neu (2008), die Technik – subtile Lenkung durch moralische oder einsichtige Appelle – ist aber so alt wie der Mensch, der jemanden erziehen will. Die Nazis waren also unfreiwillige Ernährungs-Nudging-Pioniere … wenn auch mit ganz anderen Zielen.

Wie wird Nudging im Bereich Ernährung heute eingesetzt?

Nudging ist der heimliche Star im Supermarkt und in der Kantine!

  1. Standard-Optionen: Gesunde Gerichte werden als Standard oder „Voreinstellung“ auf der Speisekarte präsentiert. Du musst aktiv etwas anderes wählen, wenn du ungesund essen willst. So viel Arbeit? Nein …
  2. Platzierung ist alles: Obst und Gemüse liegen direkt am Eingang des Supermarkts attraktiver platziert als Schokoriegel. In der Kantine stehen „gesunde“ Beilagen ganz vorne in der Ausgabe.
  3. Tellergröße: Man verwendet kleinere Teller, um die Portionsgröße zu reduzieren, ohne dass es sich nach Verzicht anfühlt. Ihr Gehirn denkt: „Voller Teller! Passt!“
  4. „Empfehlungen“ und Namen: „Gesunde“ Speisen, besonders für Kinder, bekommen klangvolle, attraktive Namen. (Niemand will „gedämpfte Karotten“; aber „Karotten-Knusperspaß des Küchenchefs“ klingt schon ganz anders.)

Gibt es wissenschaftliche Belege, dass Nudging zu gesunder Ernährung und damit zu weniger Krankheiten führt? 

Ja, kleine Studien zeigen, dass Nudging zur Verhaltensmanipulation ganz grundsätzlich funktioniert:

  1. Weniger ungesund: Die Platzierung „gesunder“ Lebensmittel an leichter zugänglichen Stellen führt fast immer zu deren höherem Konsum.
  2. Kalorien-Reduktion: Studien in Kantinen zeigen, dass die Nutzung von Nudges (z.B. kleinere Teller, andere Anordnung der Speisen) die aufgenommene Kalorienmenge pro Person reduziert.
  3. Konsumverhalten: Ein einfaches Beispiel: Wenn Wasser die leichteste oder erste Getränke-Option ist, wird es häufiger gewählt.

Das große Aber: Der direkte wissenschaftliche Beweis, dass dieses „moralische Gestupse zum Gemüseteller“ auch zu weniger Krankheiten und mehr Gesundheit führt – den gibt es nicht. Die Methode gilt zwar als wirksam und kostengünstig. Sie kann aber nicht mehr, als „Surrogatparameter“ messbar zu beeinflussen – d.h. „Ersatzwerte“ wie „Die Menschen essen mehr von ABC und wenig XYZ“. Ob diese gewünschte Verhaltensänderung aber zu „harten klinischen Endpunkten“ und medizinisch relevanten Parametern wie weniger Herzinfarkten, Schlaganfällen und Krebs oder zu besserer Gesundheit führt, das weiß niemand – und das wird auch niemand je herausfinden. Wir wissen ja noch nicht einmal, was überhaupt gesunde Ernährung sein soll!

Fazit: Nudging kann das Essverhalten von Menschen erfolgreich manipulieren, steuern und messbar verändern – aber ob und was es bringt, das ist und bleibt reine Spekulation.

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Dieser Beitrag erschien im Original zuerst auf FOCUS online-Experte.

Uwe Knop (*72) ist evidenzfokussierter Ernährungswissenschaftler (Dipl.oec.troph./JLU Gießen), Publizist, Referent und Buchautor (aktuell „ENDLICH RICHTIG ESSEN“ und „ERFOLGREICH ABNEHMEN“ (2. Auflage 2025)). Seit mehr als 15 Jahren bildet die objektiv-faktenbasierte Analyse tausender aktueller Ernährungsstudien den Kern seiner unabhängigen Aufklärungsarbeit. Knop hat den mündigen Essbürger mit eigener Meinung zum Ziel, der umfassend informiert selbst und bewusst entscheidet, worauf er bei der wichtigsten Hauptsache der Welt – genussvolles Essen zur Lebenserhaltung – vertraut.

Kontakt: Uwe Knop auf LI