Klassiker moderner Meinungsmache: Diesen PR-Framing-Trick sollte jeder kennen!

„Zahl der Essstörungen bei Mädchen um 54 Prozent gestiegen!“ „Zahl der Essstörungen bei Mädchen um 0,5 Prozent gestiegen!“ Was würden Sie wohl eher lesen?

Genau – und genau deshalb haben die neuesten Daten der Kaufmännischen Krankenkasse (KKH) zu Essstörungen für Aufsehen gesorgt. Doch was bedeuten diese Zahlen wirklich? Hier erfahren Sie, wie relative und absolute Wahrscheinlichkeiten unser Verständnis von Essstörungen und Fettleibigkeit gezielt lenken.

Wie interpretiert man als Ernährungswissenschaftler die neuen Daten der KKH Krankenkasse zu Essstörungen?

Die aktuellen Daten der Kaufmänni­schen Krankenkasse (KKH) zeigen: Zwischen 2012 und 2022 stiegen die Fälle von Magersucht, Bulimie und Binge Eating bei den zwölf- bis 17-jährigen Mädchen von  0,9 % auf 1,4 % an. D.h. im Umkehrschluss: 98,6 % der Mädchen leiden nicht an Essstörungen. Das ist grundsätzlich eine sehr gute Nachricht – trotz des Anstiegs. In den Medien liest sich das derzeit jedoch genau anders: „Zahl der Essstörungen bei Mädchen stark angestiegen“. Der Grund ist einfach: In der öffentlichen Kommunikation werden gerne die deutlich höheren und damit eindrucksvolleren relativen Risiken verwendet, nicht jedoch die besserem, weil realitätsnahen absoluten Wahrscheinlichkeiten.

Wie unterscheidet sich die relative Wahrscheinlichkeit von der absoluten Wahrscheinlichkeit?

„Zahl der Essstörungen bei Mädchen um 54 Prozent gestiegen!“ Das klingt viel und dramatisch. Das ist die relative Wahrscheinlichkeit, der sich auf die prozentuale Erhöhung von 90 Fälle (2012) auf 139 Fälle (2022) pro 10.000 Versicherte bezieht, Die absoluten Zahlen beziehen sich auf den konkreten Anstieg der Gesamthäufigkeit von 0,9 % auf 1,4 %. „Zahl der Essstörungen bei Mädchen um 0,5 Prozent gestiegen!“ Das klingt jetzt nicht nach einer Meldung, die man lesen „muss“. Diese Meinungsmachermethode ist sehr beliebt, besonders in der politischen Kommunikation, um „Maßnahmen zur Gesundheit“ zu rechtfertigen. Mehr dazu lesen Sie in: Wie wir mit Taschenspielertricks beim Thema dicke Kinder getäuscht werden.

Wie können verzerrte Medienberichte das Verständnis der Öffentlichkeit für Ernährungsfragen beeinflussen?

Sehr stark. Besonders wenn dabei zusätzlich auf Emotionen gezielt wird und vermeintlich „logische Ursachen als naheliegende Bösewichte“ integriert werden. Die Zahlen über den „starken Anstieg fettleibiger Kinder“ sind ein sehr gutes Beispiel dafür – hier wird in zahlreichen Medien regelmäßig massiv Alarm geschlagen. Gleichzeitig präsentieren Politiker die vermeintlich plausible Lösung, so z.B.: „Wir brauchen mehr Kinderschutz vor ungesunden Lebensmitteln, dazu muss ein Werbeverbot her!“ Doch hier steckt kaum Wahrheit dahinter. Besser als sinnlose, da evidenzfreie Werbeverbote wäre daher ein kostenloses Schulessen für alle Kinder.

Wie kann man als Verbraucher Meinungsmache in Bezug auf Ernährungsthemen erkennen und sich dagegen wappnen?

Jeder sollte nicht nur den hier beschriebenen Unterschied zwischen absoluter und relativer Wahrscheinlichkeit und deren Einsatz in der öffentlichen Kommunikation zur gezielten Meinungsmache („Framing“) kennen. Darüber hinaus ist es heutzutage essenziell, über den Unterschied zwischen Korrelation und Kausalität Bescheid zu wissen – denn den kennen anscheinend auch so manche Politiker wie Karl Lauterbach nicht.

Die Häufigkeit (Prävalenz) von Essstörungen dürfte deutlich höher liegen, oder?

Ja, vor allem heutzutage, wo Jugendliche ihre Essstörungen lange Zeit hinter diversen Formen „Gesunder Ernährung“ verstecken können, indem diese „aufgelevelt“ werden. Level 1:  „Ich esse kein Fleisch, ich bin Vegetarierin …“ Level 2: „Ich esse kein Fleisch und gar keine tierischen Produkte, ich bin Veganerin …“ Level 3: „Ich ich esse kein Fleisch, keine tierischen Produkte und keine ungesunden Kohlenhydrate, ich bin Low-Carb-Veganerin …“ Diese Schema lässt sich beliebig weiterführen, indem immer mehr „Besser-Esser-Hypes“ kombiniert werden – so wird die verfügbare Spektrum an Lebensmitteln immer kleiner, und das wird von den Eltern & Co. auch „offiziell akzeptiert“, denn alle Essformen sind ja für sich allein schon „super gesund“. So lassen sich immer mehr Nahrungsmittel vom Speiseplan streichen – denn Low-Carb, Keto, vegan. paleo und Co. haben eines gemeinsam: Bei all diesen „kulinarischen Diaspora“ wird irgendetwas weggelassen – aber immer etwas anderes. Hier erfahren Sie. welche dieser Ernährungsformen die beste ist

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Dieser Beitrag erschien im Original zuerst auf FOCUS online-Experte

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Uwe Knop (*72) ist evidenzfokussierter Ernährungswissenschaftler (Dipl.oec.troph./JLU Gießen), Publizist, Referent und Buchautor (u.a. Erfolgreich abnehmen und schlank bleiben, Springer 2022). Seit mehr als 14 Jahren bildet die objektiv-faktenbasierte Analyse tausender aktueller Ernährungsstudien den Kern seiner unabhängigen Aufklärungsarbeit. Knop hat den mündigen Essbürger mit eigener Meinung zum Ziel, der umfassend informiert selbst und bewusst entscheidet, worauf er bei der wichtigsten Hauptsache der Welt – genussvolles Essen zur Lebenserhaltung – vertraut.